FOCUS online auf dem Ashoka Changemaker Summit - Nachfrage nach Sklaven gibt es auch in Deutschland: Wie Aktivisten dagegen ankämpfen

Weibliche Opfer von Menschenhandel werden häufig zu sexuellen Zwecken missbraucht, männliche für Zwangsarbeit.<span class="copyright">Getty Images/iStockphoto</span>
Weibliche Opfer von Menschenhandel werden häufig zu sexuellen Zwecken missbraucht, männliche für Zwangsarbeit.Getty Images/iStockphoto

Offiziell gilt Sklaverei als abgeschafft. Trotzdem fallen nach wie vor Millionen Frauen, Kinder und Männer dem Menschenhandel in die Hände. Wie die Händler ihre Opfer fangen, was mit ihnen passiert und wie die preisgekrönte Organisation eLiberare Betroffenen hilft.

Die Umworbenen sind auf der Suche nach einem besseren Leben oder der großen Liebe. Plötzlich tritt eine Person in ihr Leben, die scheinbar alles zum Guten wenden kann, ihnen die Erfüllung ihrer Sehnsüchte verspricht – durch Arbeit, Bildung oder Zuneigung. Die Träumenden lassen sich ein – und die Falle der Menschenhändler schnappt zu. Am Ende bleibt nichts außer Leid, Trauma und Gebrochenheit.

Nach dem neuesten Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gibt es weltweit schätzungsweise 50 Millionen Opfer von Menschenhandel. Je nach Definition schließt dies auch Zwangsverheiratete ein. „Wir sehen aber nur die Spitze des Eisbergs. Die Opfer sind leider im Verborgenen“, sagt Ioana Bauer, Präsidentin der Organisation eLiberare , im Gespräch mit FOCUS online auf dem Ashoka Changemaker Summit in Hamburg. In nationalen Statistiken würden häufig ein paar Hundert identifizierte Opfer aufgeführt. Diese würden jedoch nur zwei Prozent der tatsächlichen Opferzahl ausmachen, sagen andere Statistiken.

50 Millionen Menschen sind Opfer von Menschenhandel – 90 Prozent davon sind Frauen und Kinder

Rund 90 Prozent aller Opfer von Menschenhandel sind Frauen und Kinder. „Gleichzeitig ist es wichtig zu wissen, dass es keine ‚perfekten Opfer‘ für Menschenhandel gibt wie etwa arme und ungebildete Menschen“, sagt Ioana Bauer. Tatsächlich könnte es Menschen aus allen Gesellschaftsschichten treffen.

“Menschenhandel unterscheidet nicht”, sagt Ioana Bauer. Auf dem europäischen Kontinent kommen die Opfer meist aus Osteuropa. Die Länder, in denen die Menschen ausgebeutet werden und die eine Nachfrage für Menschenhandel schaffen, sind hingegen in Westeuropa verortet – darunter Deutschland, Italien oder Großbritannien. Generell gebe es jedoch auf der ganzen Welt Ausbeutung. „Sie nimmt vielleicht andere Formen an, aber ist sie überall.“

Ioana Bauer ist Präsidentin der rumänischen Organisation eLiberare, die Opfern von Menschenhandel hilft.<span class="copyright">Ashoka</span>
Ioana Bauer ist Präsidentin der rumänischen Organisation eLiberare, die Opfern von Menschenhandel hilft.Ashoka

Die genauen Ursachen für Menschenhandel seien häufig schwer festzumachen. Oft würden viele Faktoren zusammenspielen. So herrsche in den betroffenen Regionen ein Mangel an Bildung und sozialen Möglichkeiten, außerdem gebe es „bestimmte Schwachstellen“, etwa in der Strafjustiz, die ausgenutzt würden.

Frauen werden oft für sexuelle Zwecke missbraucht, Männer für Zwangsarbeit

Wofür die Opfer ausgebeutet werden, sei geschlechtsabhängig. Insbesondere Frauen und Kinder würden häufig für sexuelle Zwecke missbraucht. Männer hingegen müssten oft Zwangsarbeit leisten. „Es hängt alles von der Branche ab. Wir wissen, dass einige Branchen eher für Menschenhandel anfällig sind zum Zweck der Ausbeutung von Arbeitskräften“, sagt Ioana Bauer. Das treffe zum Beispiel auf Landwirtschaft, die Fertigung und neuerdings Autowäsche zu. Jedoch würden Menschen auch zum Betteln gezwungen.

Eine immer größere Rolle spiele auch die Ausbeutung im Internet. Hierbei würden die Händler intime Fotos von Personen, auch Minderjährigen und Kindern, erpressen und diese verkaufen. Auch das Erstellen solcher Bilder ohne das Wissen der Betroffenen ist möglich. Sowohl auf Social-Media- als auch auf Gaming-Plattformen würden die Händler zuschlagen.

Die genauen Prozentsätze, wofür Frauen, Kinder und Männer ausgebeutet werden, variieren allerdings weltweit. In Rumänien – dem Land, aus dem in der EU die meisten Menschenhandel-Opfer stammen und wo die Organisation eLiberare ihren Sitz hat – werde jeder zweite identifizierte Betroffene für Zwangsarbeit missbraucht. Unter den sexuell ausgebeuteten Opfern sei jedes zweite ein Kind.

Auch über Menschenhändler und Kunden muss gesprochen werden

Doch nicht nur die Frage nach den Opfern, sondern auch nach den Tätern sei von Bedeutung. „Oft befassen wir uns mehr mit den Opfern. Doch beim Menschenhandel gibt es mindestens zwei weitere Akteure, über die wir reden müssen“, sagt Ioana Bauer. Einer davon sei der Menschenhändler. In einigen Punkten seien sich Täter und Opfer manchmal sehr ähnlich, zum Beispiel mit Blick auf den sozialen Hintergrund.

Der zweite Akteur, über den die Öffentlichkeit meist nicht spreche, sei der Kunde. Die Klienten seien bereit, für die Ausbeutung und Objektifizierung der Körper von Frauen, Kindern oder anderen Männern sowie die durch Zwangsarbeit hergestellte Ware zu bezahlen. „Es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass es nicht nur Opfer und Menschenhändler gibt, sondern auch Kunden“, betont Ioana Bauer.

„Menschenhandel beginnt mit dem Traum vom besseren Leben“

Die Menschenhändler würden ihre Opfer je nach Land und Region sowie Art der Ausbeutung unterschiedlich einfangen. „Menschenhandel beginnt mit dem Traum vom besseren Leben“, sagt Ioana Bauer. „Wie auch immer dieser Traum aussehen mag – das ist der Traum, den der Menschenhändler verkauft.“

Jungen Personen, die schnell reich werden wollen, würden die Händler zum Beispiel „den Job ihres Lebens“ anbieten. Dafür bräuchten sie nicht einmal besondere Fähigkeiten oder Erfahrung, auch Sprachkenntnisse seien nicht erforderlich. „Du musst nur offen für neue Möglichkeiten sein, das Angebot schnell akzeptieren und sehr bald abreisen“, sagt Ioana Bauer. „Dieser Job ist meistens zu gut, um wahr zu sein.“

Ein weiterer perfider Trick sei die Loverboy-Technik. „Wenn du ein junges Mädchen bist, das auf der Suche nach Liebe ist und vielleicht chronischen Missbrauch und Geringschätzung erlebt hat, geben sich die Menschenhändler als Romeo oder ein Ritter in schimmernder Rüstung aus“, sagt sie. Die Täter würden dann häufig eine perfekte Beziehung vorgaukeln.

Darüber hinaus seien auch Versprechungen für mehr Bildung oder medizinische Behandlungen möglich. Generell hänge das Einfangen der Menschen von ihren Träumen und Bedürfnissen ab. „Eine Sache haben wir gelernt: Menschenhändler und Anwerber sind sehr gute Psychologen und Menschenleser“, sagt Ioana Bauer.

Opfer von Menschenhandel leiden unter „komplexesten Formen von Traumata“

Die Auswirkungen für die Opfer sind sehr breit gefächert und kaum in ihrer Gänze zu erfassen, sagt Ioana Bauer. So hinterlasse Menschenhandel unter anderem tiefe seelische Narben. „Opfer von Menschenhandel erleben einige der komplexesten Form von Traumata – ähnlich wie Folter-Opfer“, sagt Ioana Bauer. Körperliche Auswirkungen wie Verletzungen und weitere Leiden sind ebenso möglich. Oft würden die Betroffenen auch auf mehrschichtige Weise zum Opfer und eine „überlappende Diskriminierung“ erfahren. Das sei zum Beispiel bei Vertriebenen der Fall, die in die Hände von Menschenhändler fallen.

Daneben seien jedoch nicht nur die Opfer betroffen, sondern auch Heimatorte, aus denen diese stammen. „Ganze Gemeinden werden ihres Potenzials beraubt, weil so Einwohner ausgebeutet werden“, sagt sie.

Organisation eLiberare hilft Überlebenden von Menschenhandel

Menschenhandel ein Ende zu bereiten – diese Mission hat sich eLiberare gesetzt. Seit 2014 ist Ioana Bauer für die im Jahr zuvor gegründete Organisation tätig, seit einigen Jahren als Präsidentin. Bereits davor hatte sie mit Opfern und Überlebenden von Menschenhandel gearbeitet.

Um ihre Mission zu verwirklichen, setzt die Organisation auf einen ganzheitlichen Ansatz. „Es ist wichtig, dass unsere Angebote für die Opfer umfassend sind und dass wir nicht nur die körperlichen, sondern alle Bedürfnisse berücksichtigen – inklusive des Bedürfnisses nach Gerechtigkeit und Entschädigung“, sagt Ioana Bauer.

Beschaffung von Unterkunft, Rechtshilfe und Psychotherapie

Hierfür betreuen und unterstützen sie und ihr Team die Betroffenen, indem sie ihnen eine Unterkunft, medizinische Behandlung oder Kleidung besorgen. Außerdem organisieren sie Psychotherapie, Rechtshilfe und Reintegrations-Möglichkeiten. „Das Ziel ist, dieser Person so viel Unabhängigkeit wie möglich zurückzugeben“, sagt Ioana Bauer. Wie das konkret aussehe, unterscheide sich im Einzelfall. „Bei einigen bedeutet das die Wiedereingliederung in das Bildungssystem. In anderen Fällen schaffen wir Arbeitsplätze und bereiten die Menschen auf ihren Job vor“, sagt sie.

Auf der anderen Seite versucht eLiberare, Menschenhandel durch Aufklärung und das Lostreten einer sozialen Bewegung zu verhindern. Dafür arbeitet die Organisation mit verschiedenen Akteuren zusammen – um zum Beispiel Kapazitäten in der Sozialarbeit, im Gesetzesvollzug und Justizsystem aufzubauen.

Außerdem kollaboriert eLiberare auch mit „ungewöhnlichen Verbündeten“ wie Kosmetikerinnen, Priestern und Rettungskräften zusammen, um das Bewusstsein für Opfer von Menschenhandel zu stärken. Auf der politischen Ebene – im nationalen und europäischen Kontext – will eLiberare bewirken, dass die Rechte der Opfer geschützt werden und Menschenhändler eine gerechte Strafe bekommen.

Organisation wurde 2022 für Schutzmodell mit einem Preis ausgezeichnet

Für ihren Kampf gegen den Menschenhandel ist die Organisation 2022 bereits mit dem Disruption of Recruitment Award ausgezeichnet worden. Konkret ging es um das von eLiberare entworfene Kompass-Modell. Dafür hatte die Organisation zu Beginn des Ukraine-Krieges und der resultierenden Fluchtbewegung Daten zu verschiedenen Risikosituationen gesammelt, die die Gefahr, Opfer von Menschenhandel zu werden, erhöhen.

Mit Hilfe des Modells klärte eLiberare ukrainische Flüchtende über diese Risikosituationen und Sicherheitsmaßnahmen auf, entwarf individuelle Sicherheitspläne und bot Unterstützung an. Insgesamt erreichte das Kompass-Modell 336.000 Menschen, beriet rund 18.700 Flüchtende und schulte knapp 1000 Arbeitende an Grenzübergängen. „Es gab Fälle, in denen Menschenhandel im Ansatz erstickt werden konnte“, sagt Ioana Bauer.

Errungenschaften wie diese erfüllen sie mit Stolz. „Ich bin so stolz auf mein Team und auf jeden Überlebenden, der seine Kraft zurückbekommt und seine Stimme sowie seinen Platz am Tisch zurückerlangt“, sagt Ioana Bauer.