FOCUS online exklusiv - Solingen als Spitze des Eisbergs: Das Protokoll eines Abschiebeversagens
Der Anschlag in Solingen mit drei Toten und acht Verletzten hat eine Diskussion über die Sicherheit und das Asylsystem in Deutschland ausgelöst. Das Attentat zeigt das Versagen der Behörden im In- und Ausland deutlich auf.
Am 7. März 2023 ist die Zeit in Deutschland für Issa al H. formell beendet. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat seinen Asylantrag aufgrund des Dublin-Abkommens als „unzulässig“ abgelehnt. Er muss innerhalb der nächsten vier Wochen nach Bulgarien ausreisen. Denn dort hatte er nach seiner Flucht aus dem ostsyrischen Deir al-Sor über die Türkei zum ersten Mal EU-Boden betreten und seine Fingerabdrücke abgegeben. Damit ist nach den Dublin-Regeln Bulgarien für seinen Asylantrag zuständig.
Das Flugzeug für Issa al H. stand schon bereit
Doch Issa al H. wollte nach Deutschland. Über Serbien, Ungarn und Österreich kam er Ende 2022 nach Bayern. Das Bamf schickte ihn zunächst nach Nordrhein-Westfalen, in die Erstaufnahmeeinrichtung Bielefeld. Die Zentrale Ausländerbehörde Bielefeld brachte ihn in der Dempsey Kaserne in Paderborn unter. Nachdem die Briten ihren Standort im November 2019 aufgegeben hatten, stand das 200.000 Quadratmeter große Areal im ostwestfälischen Wald leer, bis die Bezirksregierung Detmold es nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine als Notunterkunft vor allem für ukrainische Flüchtlinge herrichtete.
Freiwillig wollte Issa al H. Paderborn nicht verlassen, er klagte beim Verwaltungsgericht Minden gegen die Ausreise. Er habe in Deutschland einen Onkel, der gleichwohl bis heute nie gefunden wurde; in Syrien drohe ihm als Strafe für seine Flucht der Wehrdienst. Und er wolle seine Familie in Syrien mit Geld aus Deutschland unterstützen. Die Klage bleibt erfolglos. Das Bamf „verfügt“ die Ausreise, das heißt: Issa al H. soll abgeschoben werden. Bulgarien stimmt zu, ihn zurückzunehmen. Alles ist vorbereitet: Das Land NRW hat den Flieger gebucht. Am 5. Juni 2023 soll das Linienflugzeug um 7.20 Uhr vom Flughafen Düsseldorf aus mit Issa al H. an Bord nach Sofia abheben.
In der Nacht zum 5. Juni 2023 stehen um 2 Uhr nachts sechs Männer vor dem Zimmer des Syrers in der Paderborner Kaserne. Es ist eine sternenklare Nacht mit angenehmen sommerlichen Temperaturen. Die vier Polizeikräfte und die beiden Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld klopfen an die Zimmertür. Sie betreten das Zimmer, aber Issa al H. ist nicht da. Die sechs Staatsbediensteten verlassen das Kasernengelände, in dem rund 600 Flüchtlinge leben. Sie fragen weder Zimmernachbarn noch den Wachdienst, wo sich Issa al H. aufhalten könnte.
Issa al H. konnte in Ruhe warten, bis seine Abschiebefrist abgelaufen war
Sie fahren die A33 in der Nacht zurück nach Bielefeld, das Flugzeug nach Sofia verlässt den Flughafen Düsseldorf um 7.20 Uhr ohne Issa al H. an Bord. Die Beamten unternehmen keinen weiteren Versuch, den Syrer nach Bulgarien zu „überstellen“. Sie fragen niemanden, sie klopfen nicht noch einmal an der Tür, sie recherchieren nicht. Das ist nach Informationen, die FOCUS online aus Sicherheitskreisen erhielt, aktenkundig.
Issa al H. kehrte nach Medienberichten bereits am nächsten Tag um die Mittagszeit in die Unterkunft zurück. Die Zentrale Ausländerbehörde soll darüber von der Leitung des Flüchtlingsheims nicht informiert worden sein. Dies sei ein „Versäumnis“, sagt NRW-Flüchtlingsministerin Josefine Paul (Grüne).
Issa al H. musste also nicht „untertauchen“. Er konnte in aller Ruhe in seinem Zimmer in dem großen Kasernenkomplex abwarten, bis seine Abschiebefrist am 20. August 2023 abgelaufen und Deutschland für seinen Asylantrag zuständig war.
Ein „klassischer schwerer Fehler“ sei das gewesen, sagt eine Beamtin einer Sicherheitsbehörde. „Das ist ein starkes Stück. Ein untragbarer Zustand“, sagt Andreas Roßkopf (52). Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei und Bundespolizei will nicht „länger den Mund halten“, sagt er im Gespräch mit FOCUS online. Nach Taten wie in Solingen herrsche einige Tage Betroffenheit, „dann fährt der Zug weiter“, so Roßkopf. „ Das muss aufhören.“
„Der ganze Fall ist katastrophal schiefgelaufen“
Der Fall Issa al H. sei katastrophal schiefgelaufen. „Niemals hätte es beim einmaligen Versuch bleiben dürfen, den Syrer aus seiner Wohnung in Paderborn abzuholen“, sagt Roßkopf. Die Beamten hätten recherchieren müssen, sie hätten in seiner Umgebung fragen müssen, wann man ihn zuletzt gesehen hat, so der Gewerkschaftschef. „Und dann hätten sie ihn zur Fahndung ausschreiben und in Abschiebehaft nehmen können.“
Was nicht bedeutet, dass eine Abschiebung dann tatsächlich erfolgreich gewesen wäre. Roßkopf kennt die Zustände an den Flughäfen, wo die Bundespolizei die Flüchtlinge von der Landespolizei und den Ausländerbehörden in Empfang nimmt, um sie zur Linienmaschine zu geleiten: „Sie zeigen plötzlich ein auffälliges Verhalten. Sie schreien, pöbeln, randalieren, bis der Flugkapitän sagt: `Die nehme ich nicht mit`.“
Die Abschiebepflichtigen müssen das Flugzeug wieder verlassen. Ihre Auflage: Sie müssen wieder in ihr Flüchtlingsheim zurück und sollen sich bei der Ausländerbehörde melden, erzählt Roßkopf. „Damit war alles für die Katz.“ Aus Verwaltungskreisen weiß FOCUS online, dass das Dublin-Abkommen so bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern „maximalen Frust“ erzeugt.
Dublin-Abkommen erzeugt „maximalen Frust“
Denn überhaupt einen Flug zu bekommen, sei ein Kunststück. Länder wie Italien und Griechenland kooperieren kaum. „Italien ist der Weltmeister im Verhindern“, hat FOCUS online aus Sicherheitskreisen erfahren. Bei Anfragen nach Überstellungen gäben sich die Italiener zunächst kooperativ, stellten dann jedoch Bedingungen, die nicht erfüllbar seien. „Sie schreiben einen bestimmten Flug, eine bestimmte Landezeit und die Personenzahl vor“, so der Insider und nennt ein Beispiel: „Das Flugzeug muss in Rom um 10 Uhr landen, die Maschine kann Düsseldorf jedoch erst um 10 Uhr verlassen.“
Oder Griechenland: Sie seien die „Könige der Verweigerer“, weiß FOCUS online aus Sicherheitskreisen. „Sie sagen oft einfach nein, obwohl sie bestimmte Flüchtlinge aufgrund des Dublin-Abkommens zurücknehmen müssten.“ Als Gründe würden dann Verwandte in Deutschland genannt oder die schlechte Versorgungslage in Griechenland. „Sie liefern also vorab schon die Gründe für einen Härtefalleintritt in Deutschland.“
Ungarn verhindere, erfuhr FOCUS online, konsequent eine Registrierung oder einen Fingerabdruck: „Damit gibt es nie Beweise, dass ein Flüchtling im sicheren EU-Land Ungarn war. „Ungarn verstößt damit systematisch gegen das Dublin-Abkommen“, so der Insider.
Oder Serbien: Bekannt sei die Kriminalität der Schlepper, die Menschen über Serbien und Ungarn in die EU schleusten. „Die Grenzbeamten drücken beide Augen zu und kassieren Bakschisch“, erfährt FOCUS online aus Sicherheitskreisen. „Teilweise werden so 30 bis 40 Menschen in Kleintransportern über die Grenze geschleust.“
Bulgarien stand vor dem Anschlag in Solingen auf der Tagesordnung für eine Lagebesprechung im Bundeskanzleramt. In dieser Woche wollten Bundesregierung und Nachrichtendienste besprechen, wie mit der Situation in Bulgarien umgegangen werden soll. Denn das südosteuropäische EU-Land hat das geringste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf gemessen an der Kaufkraft. Immer wieder kursieren Berichte, nach denen das Land seine Standards bewusst niedrig hält, um Flüchtlinge zur Weiterreise in die EU zu bewegen. Die Unterbringung von Flüchtlingen ist oftmals menschenunwürdig, erfuhr FOCUS online. Sie sollen bestohlen und von Hunden bedroht werden.
Von „Königen der Verweigerer“ und von Schlampereien
Doch mit dem Finger nur auf die anderen zu zeigen, würde Deutschlands Behördenversagen verharmlosen. Die Schlamperei bei Issa al H. sei ein Vorgang, wie er „leider regelmäßig vorkommt, weil die Ausländerbehörden personell wie strukturell völlig überfordert sind“, wie es in NRW-Sicherheitskreisen heißt.
In der NRW-Landesregierung wird hinter vorgehaltener Hand eingeräumt, dass es vor dem Messer-Anschlag von Solingen ein schwerwiegendes Versagen der Ausländerbehörden gegeben hat. Konkret aussprechen will das bislang aber niemand. NRW-Familienministerin Josefine Paul (Grüne), zuständig für Flüchtlinge und Integration, spricht eher beschönigend von „Versäumnissen“, da Verfahrensabläufe nicht klar geregelt seien. Dass Rücküberstellungen scheiterten, sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel: „Das Asylsystem ist so nicht mehr handlungsfähig“, so Paul.
So erklären sich zum Teil offenbar die Zahlen: Laut Bamf-Statistik wurden 2024 rund 43.000 Ersuchen deutscher Behörden an andere EU-Staaten gestellt. Für 25.000 Fälle liegt eine Zustimmung des anderen Landes vor. Vollzogen wurden lediglich 3.500 Abschiebungen.
Einen weiteren Grund dafür neben der mangelhaften Kooperation nennt Andreas Roßkopf: „Wir haben viel zu wenig Abschiebehaftplätze. Momentan haben wir rund 800, wir brauchen aber eine Vielzahl, um Menschen, die zunächst nicht auffindbar sind, unterbringen zu können.“
Eine Hand weiß nicht, was die andere tut
Und oftmals weiß nach FOCUS-online-Recherchen bei den deutschen Behörden die eine Hand nicht, was die andere tut. Das Bamf wurde nicht darüber informiert, dass kein weiterer Versuch unternommen wurde, Issa al H. abzuschieben. Warum und wie er im September 2023 nach Solingen kam, um dort am 23. August zu morden, ist unklar. Ebenso ist nicht bekannt, was die Stadt über den Syrer wusste, dessen Heimatstadt Deir al-Sor 2016 vom IS erobert und zerstört worden war, und der auf einmal in Solingen auftauchte. Eine Anfrage der Stadt Solingen blieb dazu bislang unbeantwortet.
Solingen erlitt den schwersten islamistischen Anschlag seit dem Terrorangriff auf den Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016, als 13 Menschen starben. Ein Überblick über die Attentate der vergangenen Jahre zeigt jedoch: Es kann jederzeit und überall passieren: Wie in Mannheim im Mai 2024, als der Afghane Sulaiman A. den Polizisten Rouven L. mit einem Messer tötet. Oder Duisburg im April 2022, als er Maan D. in der Duisburger Altstadt einen Passanten mit zahlreichen Messerstichen ersticht, entkommt und neun Tage später in einem Fitnessstudio wahllos auf mehrere Männer einsticht und sie teilweise lebensgefährlich verletzt. Oder am Dienstag dieser Woche, als ein Deutscher Passanten in Moers mit dem Messer bedroht und von der Polizei erschossen wird.
„Ein solcher Anschlag lässt sich nicht verhindern“, sagten viele Menschen in Solingen über das Attentat beim „Festival der Vielfalt“ auf dem Fronhof im Zentrum der 160.000 Einwohner-Stadt im Bergischen Land in einer Mischung aus Realismus und Fatalismus. Solingen ist nur eine von vielen Städten, in denen die Kontrolle entglitt.
„Solingen muss eine Wende sein“
CDU-Chef Friedrich Merz hat seit dem Anschlag mit harschen Worten die aus seiner Sicht bestehenden Probleme im Asylrecht aufgezeigt und am Dienstag schließlich in großen Linien gezeichnet, wie diese zu beheben sind. Fragt man bei Innenpolitikern der CDU im Detail zum Beispiel zur gescheiterten Abschiebung des Solingen-Attentäters, wird es deutlich stiller. Das kann daran liegen, dass sie vermeiden wollen, mit populistischen Forderungen die aufgeheizte Stimmung zu befeuern. Oder daran, dass Fragen nach der Abschiebung von al H. immer auch Fragen nach möglichen Fehlern der NRW-Landesregierung sind – die von CDU-Mann Hendrik Wüst geführt wird.
Das Kommunikations- und das Asylsystem knirschen offensichtlich an allen Ecken und Enden in Deutschland. „Es muss sich etwas ändern“, darin sind sich alle Politikerinnen und Politiker einig, aber auch alle Menschen aus Solingen, mit denen FOCUS online gesprochen hat: „Dem Thema schnellere Abschiebungen müssen wir uns stellen, aber mit dem hohem Zustrom und den komplizierten Verfahren, wie wir sie heute haben, ist das für die Behörden nicht lösbar“, sagt ein Mitglied der NRW-Landesregierung zu FOCUS online.
„Solingen muss eine Wende sein. Wir müssen aus dieser Katastrophe lernen, wie wir unsere Demokratie und unsere Freiheit besser schützen“, sagt Andreas Roßkopf. Im vorigen Jahr habe es 3000 Angriffe gegen die Bundespolizei gegeben. Ein Anstieg von zwölf Prozent gegenüber 2022. „Gewalt, Hemmungslosigkeit und Respektlosigkeit sind an der Tagesordnung, auf den Straßen ebenso wie auf Social Media“, so der Gewerkschaftschef.
Über 490.000 Menschen reisen jeden Tag in Frankfurt mit der Bahn, sagt Roßkopf, der seit 35 Jahren Bundespolizist ist. „Es ist ein Hot Spot für Gefährder. Doch wir haben keinen Zugriff, wir dürfen nicht einschreiten, wenn wir etwas Verdächtiges bemerken.“ Das werde er nicht länger hinnehmen.
NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) will den Landtag am Freitag über die bisherigen Erkenntnisse zum Anschlag von Solingen im einer Sondersitzung unterrichten. „Der Anschlag von Solingen ist eines der folgenschwersten Ereignisse in unserer Landesgeschichte“, betont Wüst. Versäumnisse müssten klar benannt und Konsequenzen gezogen werden.