FOCUS online vor Ort - Frust in Thüringer BSW-Hochburg Suhl: „Ringsum ist alles zusammengebrochen“
Im Schatten des AfD-Wahlerfolgs etabliert sich mit der Landtagswahl flächendeckend eine neue Kraft in Thüringen: das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). In Suhl hat die Partei das beste Ergebnis eingefahren – und präsentiert sich als neue Gegenspielerin zum Höcke-Lager.
Rot schlägt rot. Gegen das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) haben Linke und SPD bei der Thüringer Landtagswahl deutlich verloren. Rund 96.000 der 162.000 Stimmen zog die Wagenknecht-Partei von den beiden Konkurrenten ab.
Aus dem Stand stellt sie mit 15,8 Prozent die drittstärkste Kraft im Landesparlament und erhält dort 15 der 88 Sitze – damit führt um das Bündnis kaum ein Weg an der Regierungsbildung vorbei, wenn die AfD außen vor bleiben soll.
Noch besser lief es für das BSW im Wahlkreis 021 Suhl/Schmalkalden-Meiningen IV. 19,8 Prozent bedeuten das landesweit beste Ergebnis, wie bereits bei der Europawahl (20,1 Prozent); da sogar bundesweit. Entsteht hier eine erste Hochburg?
„Wir sind über 80 Jahre verarscht worden“
Bei einem Rundgang durch Suhl zeigt sich zunächst der allgemeine Frust. „Ich will nichts mehr hören und sehen“, sagt ein älterer Mann, der am heißen Dienstagmittag auf einer Bank unter einem Baum sitzt. Sein Nebenmann ergänzt kurz angebunden: „Wir sind über 80 Jahre verarscht worden.“
Tatsächlich liegen hinter Suhl schwierige Jahre. Dem allmählichen Abschwung in der DDR folgte der brachiale Umbruch der Wiedervereinigung. Oder die „große Misere“, wie sie nicht nur Bernd Zeuner, bekennender BSW-Unterstützer, bei einem Gespräch in der Innenstadt nennt.
Namhafte Unternehmen wie das Elektrogerätewerk Suhl (EGS), Simson, Feinmess, Haenel gingen pleite oder sind nur noch ein Schatten ihrer selbst.
„Ringsum ist alles zusammengebrochen und die Jugend ist gegangen“, fasst Zeuner zusammen. Von rund 56.000 Einwohnern im Jahr 1990 schrumpfte Suhl bis 2017 auf 35.000.
Dennoch wirkt die Stadt belebt; wenn auch überaltert. Ein modernes Einkaufszentrum mit unmittelbarer Busanbindung steht in bester Lage. Gleich dahinter erstreckt sich die Fußgängerzone mit Einzelhandelsgeschäften. Vor dem Rathaus stehen dreimal wöchentlich regionale Händler auf dem Wochenmarkt – so auch am Dienstag.
Nach einer guten Zeit fühlt es sich für viele nicht an
Das Zentralklinikum sichert der früheren Bezirksstadt eine nahe Gesundheitsversorgung, seit 2006 bindet das Autobahndreieck die Stadt und Region im Thüringer Süden an Erfurt, Coburg und Schweinfurt an.
Seit 2017 steigt die Einwohnerzahl wieder auf zuletzt 37.000. Niedergang sieht anders aus, auch wenn sich frühere Zeiten rückblickend besser angefühlt haben mögen.
An eine gute Zukunft glauben einige Suhler trotzdem nicht. „Die Leute hatten unter Merkel noch eine Perspektive“, seufzt Zeuner. Kriege und Krisen, lahmende Wirtschaft, Inflation.
„Die Existenzängste sind jetzt gerade wieder da“, beobachtet Oliver Mörstedt, der am Marktplatz mit 49 Jahren noch zu den jüngeren Semestern zählt. Das Rekord-Wahlergebnis für die AfD in Thüringen (32,8 Prozent) - gerade mit einem Aushängeschild wie Höcke - bezeichnet er zwar als traurig. Trotzdem sagt er: „Die Ampelparteien haben viel versaut in den letzten Jahren.“
„Wir brauchen doch mal frisches Blut“
Schnell kommen in den Gesprächen viele der Debatten und Widersprüche der vergangenen Monate auf. Wieso Atomkraftwerke abschalten und stattdessen auf Kohle setzen? Wieso keine Holzreste aus den umliegenden Wäldern verheizen, sondern Wärmepumpen einbauen?
Dazu soziale Verwerfungen, die ewigen Migrations- und Kriminalitätsdebatten und eine Brandmauer, die in den Augen der Kritiker nun mehr als 30 Prozent der Wähler ausgrenzen soll. „Ich sehe keine Lösungen“, sagt Mörstedt. Da sei das BSW eine „interessante Alternative zu den Altparteien“.
Eine ältere Frau kommentiert ungeachtet der teils langjährigen politischen Vergangenheit vieler BSW-Funktionäre: „Wir brauchen doch mal frisches Blut.“
Auch bei einer anderen Suhlerin hellt sich das trübe Gesicht gleich auf, als sie statt der AfD über die Newcomer der Wahl sprechen soll. „Ich bin gegen Krieg und finde gut, was Sahra Wagenknecht anspricht“, sagt sie.
Genau so ging es auch Steffi Eschrich. Die Logistik-Unternehmerin beschäftigt 35 Mitarbeiter im benachbarten Zella-Mehlis direkt am Autobahndreieck und entschied sich, ohne politische Vorerfahrung für das BSW im Wahlkreis 021 ins Rennen zu gehen. Zum Gespräch lädt sie kurzfristig in ihr Büro, noch immer beeindruckt von den vielen Zuschriften.
„Die Menschen brauchen eine Alternative“
Nach wochenlangem, intensivem Wahlkampf überzeugte Eschrich aus dem Stand 18,9 Prozent der Wähler; das landesweit drittbeste Ergebnis für die BSW-Direktkandidatin. Dennoch blickt die 56 Jahre alte Logistik-Unternehmerin mit gemischten Gefühlen auf das Resultat.
„Natürlich ist das ein sensationelles Ergebnis“, sagt Eschrich zu ihrem Debüt auf der politischen Bühne. Doch hätte sie insgesamt auf noch bessere Werte gehofft – Umfragen sahen das BSW vorab bei landesweit mehr als 20 Prozent.
Wieso die Wagenknecht-Partei ausgerechnet in Suhl besser ankommt als andernorts, kann sie sich auch nicht so recht erklären. Klar sei jedoch: „Die Menschen brauchen eine Alternative.“
Deshalb habe sich die 56-Jährige einbringen wollen: „Es ist die Summe der Probleme, die nicht gelöst sind.“ Ausschlaggebend sei am Ende die „Kriegstreiberei“ der Regierung gewesen, poltert sie. Wagenknechts Bekanntheit habe den Start erleichtert.
BSW: Füllt die Partei ein Vakuum?
Der eigene Erfolg kann trotzdem nicht überdecken, dass die AfD auch in Eschrichs Wahlkreis das Direktmandat holte und mit 32,9 Prozent stärkste Kraft wurde.
Statt wie früher zwei Abgeordnete wird künftig nur noch AfD-Mann Thomas Luhn (32,8 Prozent) die Suhler in Erfurt vertreten. Eschrich ist aber sicher: Ohne das BSW hätten noch mehr frustrierte Wähler einer rechtsextremen Partei ihre Stimme gegeben. „Wir haben viele Wähler aktiviert“, sagt die 56-Jährige.
Es wirkt am Ende so, als fülle das BSW in Suhl - und auch Thüringen insgesamt - das Vakuum für diejenigen, die von Linke bis CDU keine politische Heimat finden, denen die AfD aber zu radikal ist.
„Es gibt wirklich nichts Deckungsgleiches“
Einen Schuldigen für die schwierige politische Gemengelage hat Eschrich bereits ausgemacht. „Eingebrockt hat uns das die Ampelregierung“, sagt Eschrich. Sie gibt sich kämpferisch: „Es liegt an uns, das besser zu machen.“
Nun gehe es darum, noch mehr Menschen zu überzeugen und mit guter Arbeit das Vertrauen der Wähler zu gewinnen – auch in Abgrenzung zur AfD.
„Es gibt wirklich nichts Deckungsgleiches“, betont die 56-Jährige mit Blick auf die Inhalte des BSW. Weder bei der Ukraine noch bei Migration oder der EU-Ausrichtung Deutschlands vertrete die Wagenknecht-Partei eine ähnliche Linie wie die AfD.
„Wir sind angetreten, um eine ganz neue Politik zu machen und die Menschen mitzunehmen“, behauptet Eschrich. Das BSW stehe für Positionen, die sich weder rechts noch links noch der Mitte genau zuordnen ließen.
Existenzängste spielen der AfD in die Karten
Auch wenn sie in fünf Jahren aus Altersgründen nicht mehr kandidieren will, werde sie sich weiterhin für das BSW engagieren, um künftig der AfD den Rang abzulaufen, sagt Eschrich.
Denn die Politikerin sorgt sich um Thüringen: Unternehmen könnten abwandern, der Tourismus einbrechen oder innovative Industrien einen Bogen um das AfD-dominierte Gebiet machen.
Die Existenzängste, die die Ampelregierung bei vielen Thüringern ausgelöst hat, spielen in ihren Augen der AfD in die Karten.