FOCUS online in den USA vor den Wahlen - „Schatten-Wölfe“ statt Trump-Mauer - wie Indigene die US-Wahl entscheiden können
Indigene machen in den USA sechs Prozent der Wähler aus. In Süd-Arizona liegt das zweitgrößte Reservat der USA, Haupteinfallstor für Flüchtlinge und Drogendealer. Die Tohono O'odham sind gegen Trumps Mauer. Trotzdem könnten sie die Wahl entscheiden - zugunsten Kamala Harris.
Wer auf der State Route 86 die 100 Kilometer von Tucson in den winzigen Wüstenort Sells fährt, sieht außer Saguaro-Kakteen, Wüsten-Akazien und der größten, schneeweißen Kuppel des legendären „Kitt Peak National Observatory“ links der Straße auf einem hohen Berg nicht viel. Einzige Ausnahme mitten in stacheliger Dürre: ein kinoleinwandgroßes Wahlplakat mit der Aufschrift „Vote Harris & Walz for President“.
Vom ersten (inzwischen mehrfach) vorbestraften Präsidentschaftskandidaten der Geschichte der USA hingegen fehlt hier jede Spur: Donald Trump.
Viel Leere, Hitze und Staub, doch Wüstenort hat es in sich
Kleine Häuser einfachster Bauart, Schule, Supermarkt, eine Tankstelle, eine Polizeistation, ein kleines Krankenhaus: das, was in Sells auffällt, sind vor allem Leere, Hitze und Staub, der dafür überall und gratis ist.
Doch der Ort in der Sonora-Wüste im Süden von Arizona hat es in sich.
Hier befindet sich der Verwaltungssitz des mit rund 12.000 Quadratkilometern größten Indigenen-Reservats der USA. Es hat eine 100 Kilometer lange, gemeinsame Grenze mit Mexiko, was die Gegend um Sells schon seit etlichen Jahren immer wieder zum nationalen Hotspot für illegale Immigration und Drogenhandel macht. Und: Die Wahlberechtigten der rund 34.000 Stammesmitglieder gelten mit weiteren Stämmen wie den Navajo und Pascua Yaqui als eine stetig wachsende Wählergruppe.
Eine Gruppe, die das Zeug hat, Wahlen in dem Swing State, in dem die Ergebnisse wie vor vier Jahren ungewiss sind, so zu beeinflussen, dass dies sogar die Präsidentschaftswahl entscheiden könnte.
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Indigener Lee: „Viele Indianer interessieren sich für nichts“
Die späte Oktobersonne Süd-Arizonas scherzt nicht. 36 Grad zeigt das Thermometer an, so gut wie niemand ist am frühen Nachmittag auf der Straße. Bis auf Lee Negromonte, einst Gemeindevertreter einer der elf Distrikte des Reservats, den der Reporter vor der Kirche „Our Lady of the Sacred Heart“ antrifft, wo er gerade Gräber seiner Stammesmitglieder gesäubert hat.
Der 53-Jährige bittet zum Gespräch auf der überdachten Bank an einem Tisch neben einem Spielplatz am einzigen Supermarkt von Sells.
„Wahlkampf hier zu machen ist sehr schwierig, die Entfernungen zu den Mitgliedern unseres Stamms sind groß. Aber größer noch ist das Problem, dass viele Indianer sich hier nicht für Politik interessieren. Die meisten interessieren sich für gar nichts und sind einfach nur damit beschäftigt, über die Runden zu kommen“, umschreibt Negromonte die weitverbreitete Armut unter den Tohono O'odham.
Lee lebt mit seiner 85-jährigen Mutter zusammen und pflegt sie. „Ich verdiene mir Geld durch Ausfahren von Medikamenten. Mache Kunst, Bilder, Objekte, versuche, unsere indianische Kultur zu leben und hochzuhalten. Einige Sachen verschenke ich, andere verkaufe ich. Und ich gehe jagen, um uns Essen zu besorgen“, sagt Lee, der robust gebaut ist, ein großes, rundes, friedfertiges Gesicht hat, flache Jochbeine, ein grauer Zopf schaut hinten unter seiner schwarzen Bandana hervor. Der Mann ist die inkarnierte Gemächlichkeit. Ob der Reporter ein Foto machen dürfe? Nope. „Das mag ich nicht.“
Das Reservat als Durchgangsschleuse für Flüchtlinge
Das zweite große Problem hat mit der Nähe zur mexikanischen Grenze zu tun. Immer wieder ist die Sonora-Wüste einer der Hauptübergangspunkte, zuletzt um den Jahreswechsel herum, als allein im Dezember 250.000 Menschen in die USA drangen, zigtausende davon über das Reservat der Tohono O'odham.
Das Thema Migration ist zu einem der wichtigsten Wahlkampfthemen avanciert. Lange Zeit lehnte eine Mehrheit der Amerikaner es ab, den von Trump in dessen Präsidentschaft vorangetrieben Mauerbau fortzusetzen. Seit Anfang 2024 stimmte dann in Umfragen aber erstmals mit 52 Prozent eine Mehrheit dafür.
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„Drogen sind eine Katastrophe, die unseren Stamm zerstören“
Lee Negromonte sagt, dass er nichts gegen Migranten habe. „Die USA sind groß, es gibt viel Platz.“ Doch er findet, dass Trumps Idee, Mexiko komplett mit einer Mauer abzuschotten, keine schlechte sei. „Die, die wir nicht reinlassen dürfen, sind die Drogendealer und Kriminellen. Sie zerstören das Leben unseres Stammes. Da reicht es nicht, Barrikaden aufzustellen, die nur das Passieren von Fahrzeugen verhindern. Die Drogendealer kriechen unten durch. Der Drogenfluss reißt nicht ab. Das ist eine Katastrophe, die unseren Stamm immer mehr zerstört.“
Die Auswirkungen des Drogenschmuggels reichten tief die Gemeinde der Tohono O'odham hinein, erklärt Lee. „Früher war es der Alkohol, dem viele von uns verfielen.“ Er sei selbst Alkoholiker gewesen, aber seit 25 Jahren trocken. „Inzwischen sind viele Mitglieder des Stammes von Heroin, Crystal Meth und Fentanyl abhängig, viele sind daran gestorben, auch sehr junge Menschen."
Und viele zögen es inzwischen vor, in diesem jämmerlichen Zustand nach Tucson zu gehen. "Denn dort auf der Straße", ergänzt Lee, "kann man leichter überleben als hier in der leeren Wüste.“ In der Stadt bekomme man wenigstens ab und an mal ein Sandwich zugesteckt.
Der Chef der Tohono O'odham ist gegen Trumps Mauer
Mit großer Sorge verfolgt auch Verlon Jose den Streit um eine Fortsetzung des Mauerbaus - allerdings aus anderen Gründen als Lee Negromonte. Denn im Gegensatz zu Lee lehnt der „Chairman“ (Vorsitzende) der Tohono O'odham Trumps Mauer ab, weil sie weder illegale Immigration noch Drogenschmuggel verhindere. Und deswegen unterstützt Jose auch ganz offiziell die Demokraten, wie auch die übergroße Mehrheit seines Stammes.
„Die Flüchtlinge klettern mit einfachen, billigen Leitern einfach rüber, schneiden Löcher rein oder graben Tunnel. Sie schreckt die Menschen nicht ab“, schrieb Jose kürzlich in Positionspapier an das Repräsentantenhaus in Washington. Jose fügte eine Statistik des Nachrichtenportal NPR hinzu, die belegt, dass der überwiegende Teil der Drogen seit dem Mauerbau über die offiziellen Grenzübergänge geschmuggelt wird und inzwischen jene an der nur mäßig befestigten Grenze dazwischen um ein Vielfaches übertrifft.
Stammes-Polizei lässt „Schatten-Wölfe“ nach illegalen Migranten und Drogendealern suchen
Zahllos seien die Aktivitäten und Finanzierungen, die sein Stamm seit den 70er-Jahren in den Schutz der Grenze investiert habe, eingeschlossen der „Schatten-Wölfe“. Dabei handelt es sich um eine Elite-Einheit der Stammes-Polizei, die sich auf das Aufspüren illegaler Flüchtlinge und Drogendealer in der gefährlichen, unwirtlichen Wüste spezialisiert habe.
Die Stellungnahme endet mit einem finanziellen Hilferuf an die föderale Regierung in Washington D.C., da die Tohono O'odham diese Mammutaufgabe nicht schaffen könnten. Allein für die Ermittlungen der Stammespolizei zu den Hintergründen von 1500 auf der Flucht im Reservat gestorbenen Migranten hätte sein Volk seit 2003 sechs Millionen Dollar investiert - „ohne föderale Hilfen“, ergänzt Jose.
Hinzu kämen jährlich aus dem Finanzfonds des Stammes, der sich vor allem aus Einnahmen dreier großer Spiel-Casinos speist, drei Millionen Dollar, die in die Grenzsicherung investiert würden. „2023 hat die Stammes-Polizei 100.000 Fälle registriert, bei denen es meist um illegale Immigration und Drogenhandel ging.“
"Native Americans werden zur bestimmenden Wählergruppe"
Die Demokraten investieren immer mehr Geld in den Wahlkampf in Reservaten der American Natives. Das ist auch in Arizona in diesem Jahr nicht anders, erfuhr FOCUS online vor Ort aus Kreisen des Wahlkampfteams. „Die Republikaner hingegen sind hier überhaupt nicht präsent. Wahrscheinlich, weil Indianer schon immer für die Demokraten gestimmt haben“, sagt selbst Lee Negromonte.
Und es sieht ganz so aus, als könnte sich diese steigenden Investitionen für die Wahlen um ein Vielfaches auszahlen. „In den kommenden Jahren werden die Native Americans eine der bestimmenden Wählergruppen werden, so wie es die Latinos und schwarzen Wähler sind“, sagte James Harvill, Leiter des nationalen Programms für die „Förderung der politischen Führung von Ureinwohnern“, dem Nachrichtenportal „High Country News“ schon nach den Wahlen 2020.
Obwohl Trump in den letzten Wählerumfragen in Arizona die Nase vor Harris hat, besteht nach Einschätzung demokratischer Wahlkampf-Mitarbeiter „eine gute Chance, dass Harris Arizona dennoch gewinnt“, erfuhr FOCUS online aus diesen Kreisen. Und die Tohono O'odham, Navajo und Pascua Yaqui könnten einen noch entscheidenderen Anteil daran haben als 2020, als Joe Biden den Bundesstaat Arizona mit nicht einmal 11.000 Stimmen Vorsprung vor Trump gewann und alle acht Wahlleute für sich reklamieren konnte.
Peinliche CNN-Panne zu ethnischen Wählerguppen
Käme es so, passte es zu einem ganz besonderen Jubiläum. Denn es ist exakt 100 Jahre her, das den Native Americans am 2. Juni 1924 vom Kongress mit dem „Indian Citizenship Act“ das Recht auf Wahlen eingeräumt wurde.
Auch wenn die Umsetzung in allen 50 Bundesstaaten sich bis Ende der 50er-Jahre hinzog, weil sich mehrere Bundesstaaten weigerten, das Gesetz auch umzusetzen, wäre ein solch großer Wahleinfluss von hoher symbolischer Bedeutung.
Er würde vielleicht auch dafür sorgen, dass peinliche Pannen wie bei der letzten Wahl endlich der Vergangenheit angehören würden. Damals hatte eine Wahlgrafik des Nachrichtensender CNN über die ethnischen Zugehörigkeiten der Wähler für einen Shitstorm in den sozialen Medien gesorgt. In der Grafik waren die Indigenen Völker, die sechs Prozent der Wählermasse ausmachten, als „Something else“ bezeichnet worden, als „etwas anderes“.
„Meine Mutter erinnert sich an Kennedys Ermordung, deswegen wählt sie Harris“
Lee Negromonte hingegen macht keinen Hehl daraus, dass er diesmal für Trump stimmen wird. "Ich weiß, ich bin da in meinem Stamm eine große Ausnahme."
Selbst die Mutter von Lee wird am 5. November für Harris stimmen, sagt der 53-Jährige. „Sie versteht nichts von Politik und weiß auch nichts über Kandidaten, nicht mal über jene, denen sie ihre Stimme gibt. Sie weiß, dass unser Stamm schon immer demokratisch gewählt hat und dass John F. Kennedy Demokrat war. Dessen Ermordung 1963 ist das Einzige, wovon sie immer wieder erzählt. Grund genug für sie, für Harris zu stimmen.“