Folgen des Lockdowns: Warum jetzt "viele Kinder vereinsamen"

Eltern sollten im Lockdown regelmäßig das Gespräch mit ihren Kindern suchen (Bild: fizkes / Shutterstock.com)
Eltern sollten im Lockdown regelmäßig das Gespräch mit ihren Kindern suchen (Bild: fizkes / Shutterstock.com)

Mit zunehmender Dauer des Lockdowns wachsen auch die Sorgen vieler Eltern. Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen wirken sich auf die Psyche vieler Kinder aus. Ärzte berichten von ersten depressiven Anzeichen und verstärkten Verhaltensauffälligkeiten. Psychotherapeutin Dr. med. Dunja Voos, Verfasserin des Blogs "Medizin im Text", klärt im Interview mit der Nachrichtenagentur spot on news über die psychischen Folgen der Pandemie bei Kindern auf. Zudem gibt sie Eltern Tipps, wie sie ihren Schützlingen durch die schwere Zeit helfen können.

Durch den Lockdown ist die Zahl psychisch erkrankter Kinder und Jugendlicher gestiegen. Was sind derzeit die größten Probleme?

Dunja Voos: Die Jugendlichen haben das Gefühl, etwas zu verpassen. "Ich verpasse meine besten Jahre", sagte mir kürzlich eine 15-Jährige. Den meisten fehlt der soziale Kontakt zu ihren Freunden. Zwar chatten viele bis tief in die Nacht hinein, doch den "echten" Kontakt kann diese Form der Treffen nicht ersetzen. Viele Kinder vereinsamen und geraten in die Versuchung, nichts mehr für die Schule zu tun. Die Teilnahme an den Schulvideokonferenzen lässt oft zu wünschen übrig.

Schüchterne Schüler hingegen profitieren manchmal vom Video-Unterricht. Viele Kinder und Jugendliche kämpfen jedoch mit Langeweile. Sie ernähren sich schlechter und der Bewegungsmangel zeigt erste Spuren wie Übergewicht, Rücken- und Kopfschmerzen sowie depressive Verstimmungen. Andererseits haben viele Kinder und Jugendliche auch Wege gefunden, in dieser Zeit gut zurechtzukommen, zum Beispiel indem sie sich daran gewöhnt haben, viel Zeit mit nur einer Freundin zu verbringen. Viele genießen es, dass die Verbindung zu den wenigen Freunden, zu denen man Kontakt hält, stärker und verlässlicher wird.

Viele Kinder befinden sich gerade in einer Entwicklungsphase, in der soziale Kontakte enorm wichtig sind. Können sich die Beschränkungen langfristig auf Verhaltensweisen auswirken?

Voos: Das ist schwer zu sagen. Diese Situation, die wir hier haben, ist ja etwas völlig Neues. Studien hierzu können gerade erst durchgeführt werden. Kinder und Jugendliche können sich ja noch recht rasch an neue Situationen anpassen. Ich persönlich könnte mir vorstellen, dass die Kinder und Jugendlichen relativ rasch wieder zu ihren ehemaligen Kommunikationsmustern zurückfinden. Allerdings wird sich wahrscheinlich zeigen, dass sie etwas Besonderes erlebt haben. Gruppen werden sich neu sortieren. Manches bleibt vielleicht auch dauerhaft anders. Wie es sein wird mit dem Händeschütteln, mit Umarmungen, Partys, Reisen, usw. wird sich erst zeigen, wenn es wieder mehr Freiheiten gibt.

Welche Krankheiten und Störungsbilder haben sich im Lockdown bei Kindern am häufigsten entwickelt?

Voos: Auch hier ist es noch zu früh, um diese Frage zu beantworten. Ich erlebe jedoch im privaten Kreis, dass einige Jugendliche erstmals die Diagnose Depression erhalten. Depressive Verstimmungen lassen sich aus meiner Sicht in dieser Zeit kaum verhindern. Ob sich daraus handfeste Depressionen ergeben werden, wird man sehen. Ich könnte mir auch vorstellen, dass sich bei vielen die Neigung zu Zwängen oder zu übertrieben hygienischem Verhalten verstärken wird.

Wie sieht es mit Essstörungen aus?

Voos: Wie es mit der Entwicklung von Essstörungen ist, vermag ich nicht zu sagen. Zwar essen viele Kinder - wie die Erwachsenen auch - in dieser Zeit mehr, doch könnte ich mir vorstellen, dass die Kinder und Jugendlichen auch hier wieder zu einem normaleren Essverhalten zurückfinden. Manche Kinder profitieren jedoch auch von der Situation. In manchen Familien wird mehr und bewusster gekocht und gemeinsame Mahlzeiten können vielleicht öfter eingenommen werden als früher.

Was können Eltern tun, um ihren Kindern die Angst vor der ungewissen Zukunft zu nehmen?

Voos: Angst lässt sich nur schwer wegnehmen. Viele Eltern sorgen sich selbst um die Zukunft ihrer Kinder, sodass manche Eltern dazu neigen, ihre Angst verstecken zu wollen oder "managen" zu wollen. Hier ist es wichtig, dass die Eltern ihre Ängste selbst ernstnehmen und dass sie auch ihre Kinder ernstnehmen und mit ihnen im Gespräch bleiben. Wir wissen nicht, wie sich die Dinge weiterentwickeln werden, doch die Unsicherheit kann oft durch das Gefühl von guter Bindung gelindert werden. Wenn die Eltern den Kindern signalisieren, dass sie so oft wie möglich ein offenes Ohr für sie haben, ist das schon mit das Wichtigste, was sie ihnen geben können.

Viele Kinder leiden auch unter Stress. Was können Eltern hier tun?

Voos: Es ist wichtig, miteinander über die Sorgen und Ängste zu sprechen und nicht in einen "Stress des positiven Denkens" zu geraten. Häufig wird propagiert, sich etwas Gutes zu tun, sich abzulenken, nach draußen zu gehen, sich bewusst zu entspannen oder positiv zu denken. Doch wenn man Kummer hat, sich Sorgen macht und unter Unruhe leidet, kann der Versuch, das Schlechte abzuwehren, zu noch mehr Stress führen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass nicht wenige Eltern um ihre Existenz bangen. Wir sind nun schon so lange im Lockdown, dass die Möglichkeiten, sich Gutes zu tun, für viele manchmal schon erschöpft sind. Auch hier kann es hilfreich sein, den eigenen Stress wahrzunehmen, ernstzunehmen und sich vielleicht mit Dingen zu befassen, die zum Gefühl der Resonanz führen. Mit Kindern kann man Geschichten über Menschen lesen, die gefangen waren und kreativ in die Freiheit gefunden haben - dazu gehören zum Beispiel das Märchen von Rapunzel oder "Der Graf von Monte Christo". Auch neue Projekte können helfen, wie etwa das Erlernen eines Instruments über YouTube.

Wie erkennen Eltern, dass ihre Kinder krank oder gefährdet sind?

Voos: Aufmerksame Eltern merken recht bald, wenn mit ihren Kindern etwas ernsthaft nicht stimmt. Viele Kinder können zum Beispiel schlechter einschlafen, werden nachts öfter wach, haben weniger oder zu viel Appetit, sind blass, nässen vielleicht wieder ein oder lassen sich zu nichts mehr motivieren. Dies sind aber vielleicht auch teilweise unausweichliche Reaktionen auf diese merkwürdige Zeit. Da heißt es oft: Beobachten und Ruhe bewahren. Oft können sich Eltern im Gespräch mit anderen Eltern beruhigen. Wenn man sieht, dass es auch eine Art "gemeinsames Leiden" ist, kann dies vielen wieder Auftrieb geben.

Wann sollten Eltern einen Arzt aufsuchen?

Voos: Aus meiner Sicht werden viele Eltern heute mit der Aufforderung, "so früh wie möglich" oder "umgehend" einen Arzt aufzusuchen, gestresst. Die Psyche ist hier nicht so vergleichbar mit dem Körper. Ein entzündeter Blinddarm muss rasch behandelt werden, doch die Psyche ist langsam und komplex. Es nützt vielen Kindern und Jugendlichen oft nichts, wenn sie von den Eltern zu rasch zum Arzt oder zu einem Therapeuten geschickt werden. Gerade in der Psychotherapie ist der eigene Leidensdruck oft der beste Helfer.

Wir müssen uns hier in dieser Zeit doch auch erst einmal orientieren. Wir können so manches psychisches Unwohlsein auch erst einmal abwarten. Bald kommt der Frühling, die Impfung schreitet voran und wir können dann sehen, wie es den Kindern geht. Eltern merken aus meiner Sicht, wenn etwas wirklich dringend ist. Es entsteht dann eine Art Druck infolge der Beschwerden des Kindes, durch den Kind und Eltern merken, dass ein Besuch beim Arzt oder Psychotherapeuten sinnvoll ist.

Ist damit zu rechnen, dass Kinder nach dem Lockdown langfristig in psychische Behandlung müssen?

Voos: Das ist schwierig zu sagen. Manche Kinder, die sonst zum Beispiel unter Schulangst leiden, können sich in dieser Phase auch erholen. Ich bin nun schon einigen Kindern begegnet, denen das Lernen von zu Hause wirklich gut tut. Andererseits entstehen psychische Störungen eben oft auch durch beengte Wohnverhältnisse, durch langanhaltende Konflikte mit den Eltern und durch psychische oder körperliche Gewalt in der Familie.

Wenn Familien, die sowieso schon sehr belastet sind, so lange relativ wenig Kontakt zur Außenwelt haben, können sich psychische Beschwerden natürlich verfestigen und dann möglicherweise auch eine längerfristige Behandlung notwendig werden lassen. Als besonders gefährdet sehe ich hier Babys und Kleinkinder, die noch nicht die Möglichkeit haben, ihre Not zu verbalisieren oder mit anderen zu teilen. Werden die kleinen Kinder in dieser Zeit belastet, dann werden wahrscheinlich auch langfristige Behandlungen notwendig.

Was können Eltern nach dem Lockdown tun, um ihre Kinder wieder zurück in die Normalität zu holen?

Voos: Da dürfen wir den Kindern ruhig mehr zutrauen: Sie finden häufig von selbst in die Normalität zurück. Eltern können dies jedoch fördern, indem sie für ausreichend Außenkontakte sorgen. Wir alle wissen ja noch nicht, wie der Weg zurück in die Normalität aussehen wird, aber vielleicht gelingt es uns, zuversichtlich zu bleiben und dann zu schauen, was sich ergibt.

Diese Zeit ist auch eine große Chance: Sie weckt die Kreativität vieler Menschen und ich nehme in der Umwelt auch wahr, wie viele positive Veränderungen es gibt. Dazu gehören Experimente beim Kochen und Backen, soziale Projekte, zahlreiche Lehrvideos auf YouTube, Musik- und Tanzunterricht via Internet, Umweltprojekte und vieles mehr, was die Kinder und Jugendlichen sicher auch nach dem Lockdown weiterführen werden.