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Frankreich während der Fußball-EM: Verloren – und doch gewonnen

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Frankreich hat das Endspiel der Europameisterschaft zuhause verloren. Das Land versucht, diese Niederlage so schnell wie möglich zu vergessen. Dennoch hat die Meisterschaft dem Land geholfen.

Von Lisa Louis, Paris

Die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich stand unter keinem guten Stern. Streiks, nicht zuletzt im Nahverkehr und bei der Müllabfuhr, blockierten das Land, starker Regen hatte ganze Landstriche Frankreichs unter Wasser gesetzt – die Seine in Paris erreichte den höchsten Stand seit 30 Jahren –, und, nicht zuletzt, es herrschte Angst vor weiteren Terroranschlägen. Die Regierung hatte den Ausnahmezustand bis nach der EM verlängert, und mehr als 90.000 Sicherheitskräfte sollten die Fanzonen und Stadien vor möglichen Attacken schützen. Und dennoch – dieses Fußballturnier sollte ein Lichtblick sein für das Land, das von geringem Wachstum und Terrorattacken gebeutelt ist. Eine Rechnung, die aufgegangen ist – zumindest teilweise.

So fieberten Deutsche in Paris beim Halbfinale der EM mit

Dabei sind die Franzosen deutlich weniger fußballbegeistert als ihre europäischen Nachbarn. Nur 46 Prozent der Franzosen gaben in einer Studie vergangenes Jahr an, dass sie den Fußball mögen oder lieben. In Deutschland waren es zum Beispiel 72 Prozent. Das Forschungsprojekt „Football Research in an Enlarged Europe“ haben neun Universitäten aus acht europäischen Ländern gemeinsam durchgeführt.

Selbst in Frankreich steigt das Fußballfieber

So war also das Fußballfieber unter den Franzosen während dieser vier Wochen begrenzt. Die ausländischen Fans waren meist auffälliger als die französischen. Doch das änderte sich schlagartig am Sonntag. Franzosen und Französinnen hüllten sich schon Stunden vor dem Finale in Frankreichflaggen. Sie hatten die Nationalfarben auf die Wangen gemalt, fuhren hupend in Autos und auf Rollern durch die Hauptstadt, wild jubelnd. So, als sei die EM schon gewonnen. Und als ob das Kind Frankreich sich auf das beste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten freuen dürfe. „Das Recht zu träumen“ und „Frankreich hält den Atem an“ titelten die Zeitungen. „Frankreich verdient diesen magischen Moment, nach all den Dramen, die es hat durchmachen müssen“, schrieb die Tageszeitung Le Figaro.

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Gefühlt das ganze Land sang die Marseillaise vor dem Anpfiff. Die Kneipen der Hauptstadt reichten längst nicht mehr aus für die Massen, die sich auf den Bürgersteigen drängten. Eine Straße im Norden von Paris mit einem Dutzend Kneipen war so voll mit Menschen, dass Autos nicht mehr durchkamen. Jeder Pass wurde von den Zuschauern entweder durch Jubeln oder Buhrufe begleitet. Auf einmal war das Land wieder eins, stand zusammen, identifizierte sich durch „Les Bleus“ als die eine Nation Frankreich.

Nach dem Tor – tiefes Schweigen

Doch je weiter die Spielzeit fortschritt, desto mehr schlug die Stimmung um. Die Gesichter wurden länger, sahen gestresst, besorgt aus. Trotzdem schien keiner in jener Straße im Norden von Paris damit zu rechnen, dass Portugal in der Verlängerung ein Tor schießen könnte. „Ich hoffe nur, dass es nicht zum Elfmeterschießen kommt – dabei kommt es immer viel zu sehr auf Glück an“, sagte ein Fan und schien dabei allen aus der Seele zu sprechen. Dann das Eins zu Null für Portugal. Tiefes Schweigen legte sich über die Straße mit den Hunderten von vorher doch so lautstarken Franzosen. Ein Schweigen, dass nur von wenigen gebrochen wurde, die halbherzig die Marseillaise anstimmten – als Ansporn für die Blauen. Schließlich hatte man ja noch zehn Minuten für ein Gegentor.

Doch das Fußball-Schicksal Frankreichs war besiegelt. „Es ist so traurig – wir waren alle bereit, so richtig zu feiern, und auf einmal ist die Party abgesagt“, sagte Marie-Luce Bia Zafinikamia zu Yahoo Deutschland!. Um sie herum schlurften die Fans nach Hause, mit gesenktem Blick. „Ich geh heim – schließlich muss ich morgen früh arbeiten“, sagte einer ihrer Freunde. Marie-Luce nickte nur.

Ein Teil des Landes feierte an diesem Abend dennoch – die portugiesische Diaspora. Rund 1,5 Millionen Portugiesen leben nämlich in Frankreich, so viele, wie in sonst keinem anderen Land außerhalb Portugals. Ihr Hup- und Singkonzert dauerte nicht nur in der Hauptstadt bis tief in die Nacht hinein.

„Nicht unser Tag“

Am nächsten Morgen dann Katerstimmung bei den Franzosen. „Das war nicht unser Tag“, titelte die Tageszeitung Le Parisien. Das Sportblatt L'Equipe schrieb: „Das war fast perfekt“. Die linksgerichtete Tageszeitung Libération urteilte: „Wie blutige Anfänger“. Im Paris der Nach-EM-Zeit ging wieder alles seinen gewohnten Gang. Oder zumindest wollte man das so. Die EM-Flaggen auf den Champs-Elysées ersetzte man durch Südafrika-Flaggen für den Staatsbesuch des Präsidenten. Den Blauen war die Enttäuschung im Gesicht zu lesen, als sie am Montag zum Mittagessen im Präsidentenpalast waren. Sie mieden den Blick-Kontakt mit den Fans, die vor dem Palast auf sie warteten. Fast so, als hätten sie Angst vor Vorwürfen. Und als ob sie diese Episode so schnell wie möglich vergessen wollten.

Ist das also alles, was dem Land von diesen vier Wochen bleibt – ein bitterer Nachgeschmack? Nicht ganz. „Danke für dieses Stück Glückseligkeit, das Ihr den Franzosen bereitet habt“, sagte Staatschef François Hollande bei seiner Ansprache vor der Mahlzeit mit der Mannschaft. Ein Fan, der den Bleus zujubelte, als sie den Elysée-Palast betraten, sagte in die Kamera des Nachrichtensenders BFMTV: „Es ist mir egal, ob wir gewonnen oder verloren haben – ich find Euch trotzdem toll.“ Wohlgemerkt: ob wir…

Innenminister Bernard Cazeneuve lobte die Sicherheitskräfte des Landes für ihren Einsatz: „Obwohl die Terrorgefahr extrem hoch war, war die EM 2016 dank Eures Einsatzes ein voller Erfolg“, sagte er am Montag. „Die ganze Welt hat während dieses Turniers auf Frankreich geschaut. Und Frankreich ist sich selbst treu geblieben!“ Und das gilt, obwohl Ausschreitungen zwischen Hooligans in Marseille und der Mord von zwei Polizisten durch einen Terroristen in der Nähe von Paris diesen Erfolg überschattet haben.

Ein Sieg gegenüber dem Terrorismus

Die positive Bilanz kann zumindest Salim Toorabally unterschreiben. Für den Sicherheitsbeamten war die EM nicht nur ein sportliches Ereignis. „Das Turnier war die Gelegenheit, der Welt zu zeigen, dass Frankreich nach dem 13. November dennoch fähig ist, sportliche Großevents auszurichten, ohne dass es zu Terrorattacken kommt“, sagt er zu Yahoo Deutschland!. Toorabally war an jenem Abend im November nämlich am Stade de France und hinderte einen der drei Selbstmordattentäter daran, ins Stadion zu gelangen. Dann leistete er mehreren Menschen erste Hilfe. „Ich habe die ganze EM hindurch an den Stadien gearbeitet. Einfach war das nicht, denn ich sehe noch immer die Bilder des 13. Novembers vor meinen Augen“, meint er.

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Aber jetzt habe er wieder mehr Vertrauen in die Zukunft. Frankreich habe einen Sieg gegenüber dem Terrorismus davongetragen. Dass das französische Team nur zweiter geworden ist, ist für Toorabally dabei nicht so schlimm. „Immerhin haben wir den Weltmeister Deutschland geschlagen“, meint er mit einem Lächeln. „Jetzt gucken wir nach vorne – auf die Weltmeisterschaft 2018 in Russland.“ Das sehen übrigens viele Franzosen genauso – nicht nur einige derer, die am Sonntag Abend mitgefiebert haben, in jener Straße im Norden von Paris.

Bilder: Getty/Yahoo Deutschland!

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