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Ein Fußballreporter in der Krise

Jan Platte gilt als einer der besten Fußball-Kommentatoren Deutschlands. Für die Sportplattform DAZN kommentiert er viele Top-Partien, momentan ist er wegen Corona-Lockdowns arbeitslos. Wie lebt es sich als Fußballreporter, wenn der "Sinn des Lebens" abgestellt wurde.

Jan Platte arbeitet freiberuflich als Sport-Kommentator. Normalerweise vor allem für die Streaming-Plattform DAZN, wo er Top-Spiele der Champions League oder nationaler europäischer Ligen ins heimische Wohnzimmer transportiert. Oft gemeinsam mit seinem Experten Jonas Hummels, dem Bruder von Weltmeister Mats. So war Jan Platte zuletzt bei legendären Spielen wie dem Champions League-Triumph von Jürgen Klopps FC Liverpool gegen Tottenham oder dem nicht minder denkwürdigen Halbfinalsieg von Liverpool gegen Barcelona (4:0 im Rückspiel an der Anfield Road) die Stimme des Geschehens. Auch für die mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete SAT.1-Spielshow "Catch" kommentiert der 44-jährige Sport-Fan seit 2018 die Fang-Wettbewerbe vor der Kamera. Wie lebt so jemand, wenn all das, was man beruflich macht, bis auf Weiteres nicht mehr stattfindet?

teleschau: Herr Platte, wie sah Ihr Arbeitsalltag vor Corona aus?

Jan Platte: Ich habe pro Woche zwei bis drei Fußballspiele für DAZN kommentiert. Insgesamt waren es zwischen acht und zwölf Spiele pro Monat. Wenn ich eine Vorbereitungszeit von acht bis zehn Stunden pro Spiel ansetze, war das schon ein Fulltime-Job.

teleschau: Kostet jedes Spiel gleich viel Zeit?

Platte: Es ist immer davon abhängig, wie gut ich ein Team kenne. Da ich mich immer viel mit dem spanischen Fußball beschäftigt habe, brauche ich bei Spielen des FC Barcelona oder von Real Madrid deutlich weniger Vorbereitungszeit, als bei anderen Kicks.

"Das richtige Fußballgefühl kehrt erst mit vollen Rängen zurück"

teleschau: Brauchen "große Spiele" generell mehr Vorbereitungszeit?

Platte: Man fängt da automatisch früher an, auch weil der Medien-Hype rund um die Partie größer ist. Es gibt einfach mehr Geschichten. Wenn Liverpool gegen Barcelona spielt, fange ich spätestens vier Tage vor der Partie mit der intensiveren Vorbereitung an. Vieles passiert allerdings auch automatisch - da ist die Grenze zwischen Job und Privatem nicht ganz klar (lacht). Ich lese zum Beispiel täglich mehrere spanische Sportzeitschriften in digitaler Form.

teleschau: Machen Sie außerdem beruflich noch etwas?

Platte: Gelegentlich. Früher habe ich auch viel Tennis kommentiert, aber dafür gibt es bei DAZN auch andere Kommentatoren. Boxen mache ich in letzter Zeit öfter, da bin ich über die letzten Jahre hineingewachsen. Fußball bleibt aber mein Hauptgeschäft.

teleschau: Das heißt, Sie reisen normalerweise auch viel?

Platte: Ich kommentiere meistens aus der DAZN-Zentrale in Ismaning. Bei der Champions- oder Europa-League bin ich des Öfteren vor Ort. Die meisten Spiele kommentiere ich aber über das Fernsehbild.

teleschau: Haben Sie nun Entzugserscheinungen, so ganz ohne Fußball?

Platte: Der Fußball und die Arbeit fehlen mir, aber ich habe weder Entzugserscheinungen noch Langeweile. Unsere zwei Söhne, sie sind drei und acht Jahre alt, machen zu Hause viel Remmidemmi. Es gibt es immer etwas zu tun - und es ist schön, dafür Zeit zu haben. Trotzdem freue ich mich schon jetzt auf mein erstes Fußballspiel, das wieder vor Zuschauern stattfindet. Das ist für mich der Moment, wenn beim Fußball wieder Normalität einkehrt. Die Geisterspiele, die vermutlich erst mal kommen werden, sind wirtschaftlich wichtig. Das richtige, elektrisierende Fußballgefühl wird aber erst mit den vollen Rängen zurückkehren.

"Natürlich hat man als Fußballkommentator momentan viel Zeit"

teleschau: Manche Experten sagen, dass es Fußball vor Publikum vielleicht erst im Herbst 2021 wieder geben wird.

Platte: Ich glaube, momentan ist alles Kaffeesatzleserei. Wir wissen einfach nicht, was wann passieren wird. Mein letztes Spiel vor dem Lockdown war das Europa League-Hinspiel Frankfurt gegen Basel. Es war ein Geisterspiel, bei dem erst kurz vorher klar war, ob und in welchem Modus es ausgetragen wird. Für die Spieler, das hat man förmlich bis nach München gespürt, war es eine sehr merkwürdige Situation. Fußball ohne Zuschauer ist komplett anders.

teleschau: Sie haben sicher Kontakt mit anderen Menschen, deren Leben sich vorwiegend um den Fußball dreht. Gibt es da viele psychische Krisenfälle?

Platte: Ich höre von Freunden schon häufiger, dass ihnen der Fußball richtig abgeht. Der eine kommt besser, der andere schlechter mit dem vielen Daheimsein zurecht. Aber das ist ja bei allen Menschen so, ob sie nun mit Fußball ihr Geld verdienen oder nicht. Ich weiß von einigen Spielern, dass sie sich tierisch gefreut haben, als sie wieder in Kleingruppen trainieren konnten. Obwohl das oft nur zu zweit war und mit dem Alltag eines Fußballprofis nur bedingt etwas zu tun hat.

teleschau: Wie gehen Kommentatoren und Experten mit der neuen Situation um?

Platte: Momentan sind ja die Retro-Spiele alles, was wir an "Live"-Fußball haben. Ich finde diese Reisen in die Vergangenheit zu Klassikerpartien durchaus interessant. Auf DAZN gibt's zum Beispiel das Spiel Juventus Turin gegen Werder Bremen von 2006, und Patrick Owomoyela, der damals auf dem Platz stand, kommentiert das ganz spannend aus seiner Sicht. Es ist dann so, als würde man seine Lieblingsserie oder den Lieblingsfilm noch einmal mit dem Audio-Kommentar des Regisseurs erleben. Also durchaus neu und spannend ...

teleschau: Also besser eine Neuvertonung alter Spiele als "naturbelassene" Fußball-Klassiker aus der Konserve?

Platte: Bei Letzterem versucht man, den Moment noch einmal heraufzubeschwören. Die Neuvertonung ist dann eher so etwas wie ein "Making of" beim Film, also etwas Neues. Ich mag beides - die Emotionen im Original und die neuen Blickwinkel durch damalige Zeitzeugen. Natürlich hat man als Fußballkommentator momentan viel Zeit. Zeit, die man neben der Familie auch darauf verwenden kann, tiefer in Themen einzusteigen, zu denen man sonst nicht kommt. Ich schaue mir beispielsweise Dokumentarfilme über Fußballlegenden an oder lese viel Hintergrundmaterial.

"Entscheiden wird am Ende immer die Politik"

teleschau: Keiner weiß, wann und wie es mit dem Fußballgeschäft weitergeht. Wie viele Sorgen machen Sie sich wegen Ihres Jobs?

Platte: Dass es irgendwann dieses oder nächstes Jahr wieder Fußballspiele geben wird, die kommentiert werden müssen, ist klar. Insofern gehören wir Kommentatoren keiner Berufsgruppe an, deren Dienstleistung nicht mehr gefragt ist. Trotzdem macht man sich natürlich Gedanken übers Geld. Manche arbeiten frei wie ich, andere als Angestellte. Es gibt sehr unterschiedliche Modelle. Die meisten, die mit Fußball ihr Geld verdienen, sind irgendwie von der Krise betroffen.

teleschau: Die DFL, also der Zusammenschluss der Vereine der Ersten und Zweiten Fußball-Bundesliga, würde gerne bald mit Geisterspielen die Saison fortsetzen. Ob es so kommt, dürften aber andere entscheiden - oder?

Platte: Ich bin kein Experte, aber im Prinzip teile ich diese Vermutung. Entscheiden wird am Ende immer die Politik - und da haben wir auch noch ein föderales System, bei dem die Zuständigkeiten bisweilen kompliziert sind. Diese Krise ist beispiellos. Für die meisten Fragen und Probleme rund um Fußballspiele müssen nun zum ersten Mal Entscheidungen dieser Art getroffen werden. Da gilt es zu prüfen, wer ist verantwortlich, wer muss gefragt werden, welche Bereiche betrifft das. Dass Fußballgeschäft und Volksgesundheit so eng miteinander abgestimmt werden müssen, ist ein absolutes Novum.

teleschau: Sie kennen sich gut mit Spanien aus, wo die Pandemie noch viel heftiger wütet als in Deutschland. Wie sehen die Menschen das dort mit dem Fußball?

Platte: Für mich ist es unvorstellbar, dass die Liga dort bald wieder losgeht. Natürlich wird auch in Spanien diskutiert - und gestritten. Aber die Menschen haben gegenwärtig ganz andere Probleme als Fußball. Es gibt Pläne für eine Fortsetzung im Juni, aber die würde ich eher als noch unsicherer einstufen als jene für den deutschen Fußball.

"Der Fußballbetrieb ist zu kommerziell, um dauerhaft von der Krise lernen zu können"

teleschau: Wird die Corona-Krise das Fußballgeschäft verändern?

Platte: Man liest gegenwärtig, wie schlecht es vielen Vereinen geht. Viele stehen eine Pause von zwei oder drei Monaten kaum durch. Daran sieht man, wie sehr das System Fußball heute auf Kante genäht ist. Der FC Barcelona gibt ungefähr 650 Millionen Euro pro Jahr nur für Gehälter aus. Da wird klar, wie viele Einnahmen man generieren muss, um diese Summe erst mal zu erwirtschaften. Es könnte schon sein, dass die Krise das Geschäft ein wenig zur Vernunft bringt.

teleschau: Sie glauben, der Effekt wird nachhaltig sein?

Platte: Das nicht. Selbst wenn sich alles ein bisschen gesundschrumpft - irgendwann gelten wieder die Gesetze des Marktes. Dann legt der eine eben noch etwas drauf, eben weil er es kann. Danach verschiebt sich der Preis wieder nach oben. Der Fußballbetrieb ist zu kommerziell, um dauerhaft von der Krise lernen zu können. Gleichwohl bleibt die Hoffnung, dass alles erst mal ein bisschen runterkocht.

teleschau: Hat sich Ihr Leben auch positiv durch die Krise verändert?

Platte: Ja, Zeit für die Familie und Dinge, die abseits der Tagesaktualität stattfinden, tun mir gut. Ich bin selbst sehr sportbegeistert, also im aktiven Sinne. Leider habe ich mir Anfang März beim Fußball einen Meniskus- und Kreuzband-Schaden zugezogen. Insofern kann ich mich momentan nicht ganz so viel bewegen, wie ich es gern würde. Ich bin trotzdem viel draußen, weil es mit zwei Kindern auch nicht anders geht. Mir wird sicher nicht langweilig. Manchmal wünschte ich mir sogar ein Stündchen pro Tag mehr Zeit für mich.

teleschau: Der Fußball ist als Lebensgefühl also in den Hintergrund getreten?

Platte: Ja, es ist schon komisch. Normalerweise wäre jetzt die ganz heiße Zeit, in der alle Entscheidungen fallen. Genau dann, im Endspurt der Saison, entschleunigt zu werden, ist eine interessante Erfahrung. Statt um Fußball kümmere ich mich jetzt um Familie und Kinder. Es gibt ganz sicher schlimmere Krisensituationen.