Gastbeitrag von Gabor Steingart - Endkampf um Amerika: Trump-Attentat wirkt als Aufputschmittel für beide Seiten
In einem Land, in dem es mehr Tote durch Schusswaffen als durch Verkehrsunfälle gibt, eskaliert der Wahlkampf 2024. Der Angriff auf Trump zeigt, wie tief die Risse in der amerikanischen Gesellschaft sind. Und beide Kandidaten schüren sie.
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Der Schuss auf Donald Trump wurde aus der Stille und ohne Vorankündigung abgefeuert. Aber der Gewalt geht eine Rhetorik der Gewalt voraus. „The Violent Project“, eine wissenschaftliche Untersuchung der Biografien von 170 Massenmördern in den USA, steht heute in blutig roten Buchstaben über dem Wahljahr 2024.
The Violent Project: Dieser Wahlkampf 2024 ist nicht zuerst links oder rechts, sondern gewalttätig. In den Worten. In den Gesten. In den Narrativen beider Wahlkämpfer. Was am 6. Januar 2021 mit der Erstürmung des Capitols begann, setzte sich am Samstag in Butler, Pennsylvania fort.
Die politischen Vorzeichen wechseln. Die Gewalt bleibt. Sie ist das Kontinuum dieser Wahlauseinandersetzung, die mit der versagten Anerkennung des Wahlsieges von Joe Biden durch Donald Trump und seine Anhänger begann.
Beide Kandidaten inszenieren diesen Wahlkampf als Endkampf um Amerika
Die gestrige Szene in Pennsylvania folgt einem zeitgenössischen Drehbuch der politischen Gewalt, das viele Co-Autoren hat. Beide Kandidaten und ihre Teams inszenieren diesen Wahlkampf nicht als Hochamt der Demokratie, sondern als Endkampf um Amerika.
Für die Demokraten geht es nicht um Trump oder Biden, sondern um Demokratie oder Diktatur. Der amtierende Präsident sagt:
„Die Demokratie steht zur Wahl. Wir müssen wählen, weil wir wissen, dass es nicht nur um die Politik des Augenblicks geht.“
Aus Sicht der Republikaner führt Trump seine Truppen in die „finale Schlacht“ um Amerika, wie er es selber nennt:
„Das ist nicht nur eine Kampagne. Das ist die finale Schlacht. Mit Ihnen an meiner Seite werden wir den tiefen Staat zerstören.“
In den USA besitzt durchschnittlich jeder Bürger 1,2 Feuerwaffen
Das Überraschendste an den Schüssen auf Trump war nicht, dass sie abgefeuert wurden, sondern dass sie nicht getroffen haben. Ein Land, in dem durchschnittlich jeder Bürger 1,2 Feuerwaffen besitzt und das nahezu jedermann die Ausbildung zum Scharfschützen ermöglicht, ist ein Land, in dem geschossen und gestorben wird.
Neben der hohen Zahl von Selbsttötungen durch Waffen und der steigenden Zahl von Massenerschießungen an Amerikas Schulen, feiert die organisierte Kriminalität in den Straßen von New York, Los Angeles, Chicago und vielen anderen Großstädten seit Jahrzehnten ein Festival der Gewalt. Eine Gesellschaft mit mehr Schusswaffentoten als Verkehrstoten (48.204 vs. 42.795 in 2022) hat sich selbst verroht.
Was im gesellschaftlichen Leben gang und gäbe ist, hat wie selbstverständlich auch die Sphäre des Politischen durchdrungen. Der gestrige Aufschrei des demokratischen Präsidenten enthielt eine für jedermann offensichtliche Unwahrheit:
„In Amerika gibt es keinen Platz für diese Art von Gewalt. Das ist krank. Das ist krank.“
Amerika ist krank, aber das schon seit langem
Aber politische Gewalt gehört zu Amerika wie Ketchup zu Pommes. Amerika ist krank, aber das schon seit langem. Schon vier Präsidenten – Abraham Lincoln (ermordet am 14. April 1865), James A. Garfield (angeschossen am 2. Juli 1881, gestorben am 19. September 1881), William McKinley (angeschossen am 6. September 1901, gestorben am 14. September 1901) und John F. Kennedy (ermordet am 22. November 1963) – wurden durch politische Attentäter im Amt getötet.
Der demokratische Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy erlag seinen Schussverletzungen, ebenso wie der Führer der Bürgerrechtsbewegung Martin Luther King. Die Präsidenten Ronald Reagan und Gerald Ford kamen mit dem Schrecken und leichten Verletzungen davon. Ihre Attentäter konnten die Tat nicht vollenden.
Der noch blutverschmierte Trump hat mit seinem spontanen „Fight! Fight! Fight!“ den Ton für die Fortsetzung gesetzt. Auch die Aufrufe zur Mäßigung der demokratischen Anhänger – Biden: „Wir können nicht zulassen, dass so etwas geschieht“ – sind in Wahrheit die Aufforderung zum Kampfe.
Secret Service ist selbst Teil einer schmutzigen Flüster-Kampagne geworden
Der Secret Service wurde gegründet, kurz bevor Lincoln erschossen wurde. Er beschäftigt heute 8000 Agenten, die durch den überall auf Social Media geteilten Verdacht, sie könnten die potenzielle Ermordung von Trump durch Wegschauen befördert haben, nun selbst Teil einer schmutzigen Flüster-Kampagne geworden sind.
Zack Beauchamp, Senior Correspondent des US-Nachrichtenportals Vox, spricht vom „demokratischen Zusammenbruch“, dem „Democratic Breakdown“
„Je mehr die Menschen ihre politischen Gegner hassen und fürchten, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich über das Gesetz hinwegsetzen, um sie zu stoppen.“
Es gibt mit diesen beiden Kandidaten keine Chance auf Mäßigung. Beide haben sich in ihre Narrative verrannt. Biden glaubt, er muss Amerika vor Trump retten. Trump glaubt, er muss Amerika von Biden erlösen.
Beide werden dieses Ereignis in ihr Evangelium des Unfriedens einzubauen wissen. Beide halten den anderen nicht für die Alternative, sondern für die Unmöglichkeit. Der versuchte politische Mord wirkt daher auch auf die Drehbuchautoren beider Seiten nicht wie ein Beruhigungs-, sondern wie ein Aufputschmittel.
Fazit: Der US-Streifen „The Violent Project“ geht in die nächste Staffel. Part 2. Coming soon.