Gastbeitrag von Gabor Steingart - Angst vor der AfD? Demokratie in Deutschland ist nicht in Gefahr - nur in Gebrauch

Björn Höcke (AfD), Partei- und Fraktionsvorsitzender der AfD in Thüringen<span class="copyright">Jacob Schröter/dpa</span>
Björn Höcke (AfD), Partei- und Fraktionsvorsitzender der AfD in ThüringenJacob Schröter/dpa

Die Angst vor einem Zusammenbruch der Demokratie ist übertrieben. Spannungen und Veränderungen gehören dazu, wenn die Bürger ihre Meinung äußern. Die Demokratie ist nicht in Gefahr, sie wird gebraucht. Es ist an der Zeit, wieder sachliche Argumente auszutauschen.

In Deutschland sind wieder die Pessimisten unterwegs. Sie wollen uns einreden, die Demokratie sei bedroht und der Bürger selber schuld, wenn jetzt nicht mehr vernünftig regiert werden kann. Die Süddeutsche Zeitung schreibt:

„Die Demokratie gerät an ihr Limit.“

Das Bürgerlein sei zu rechts, zu links, zu grün, zu braun, zu rot und zu wirr sei es auch. Wie sollen die Politiker denn ordentlich Politik machen, wenn der aufmüpfige Bürger ihnen dauernd dazwischenfunkt?

Dass der Taxigast den Weg besser kennt als der Taxifahrer, die Eltern den Lehrplan tiefer durchdrungen haben als der Lehrer und das Sportschau-Publikum von der Mannschaftsaufstellung mehr versteht als der Nationaltrainer, daran hat man sich 225 Jahre nach der Französischen Revolution gewöhnt. Aber dass das borstige Bürgerlein sich nun auch noch dem Kanzler und seinem Hofstaat widersetzt, ist empörend.

 

Die letzten Überlebenden der demokratischen Mitte?

Man hätte es ahnen können, dass Willy Brandts leidenschaftlicher Ausruf „Mehr Demokratie wagen“ Jahrzehnte später im Chaos enden würde.

Apropos Ende. So viel Ende wie heute war nie. Das Ende der alten Bundesrepublik. Das Ende der Regierungsfähigkeit. Das Ende des Anstands. Das Ende der Ampel und – als sei das nicht schon schlimm genug – das Ende der Demokratie.

Die Angstverkäufer wollen uns einreden, sie seien die letzten Überlebenden der demokratischen Mitte und vor unseren Augen seien wir teilnehmende Beobachter einer Neuverfilmung vom Untergang der Titanic – mit Olaf Scholz und Ricarda Lang in den Hauptrollen.

Wie geborstene Schiffsplanken sehen wir jene Worte über die Spree treiben, aus denen unsere Nachkriegsdemokratie gezimmert war:

Da vorne schwimmt der „Kompromiss“.

Weiter hinten versinkt gluckernd der „Konsens“.

Die „Mitte“ – oh weh – ist schon untergegangen. Der Olaf und die Ricarda hängen ermattet auf den Planken.

Vor düsterer Reichstagskulisse ertönt zum furiosen Finale Céline Dion, die es gerade noch rechtzeitig vom Eiffelturm in den Spreebogen geschafft hat: „My Heart Will Go On“.

Erfindung aus den Albtraumfabriken der Medien

Diese Neuverfilmung ist eine Erfindung aus den Albtraumfabriken der Medien und der Politiker. Peter Sloterdijk weiß auch, warum:

„Noch immer ist die Sympathie für den Zusammenbruch die beliebteste Antwort, sobald die Frage aufkommt, was an die Stelle des Bestehenden treten soll.“

Die Illusion der Apokalyptiker beginnt schon beim Wort „AfD-Wähler“, als seien diese Menschen genetisch ungünstig disponiert und von Geburt an Mitglied einer rechtspopulistischen Sekte.

In Wahrheit sind fast alle AfD-Wähler, frühere SPD-, FDP-, CDU- oder Grünen-Wähler. Viele von ihnen haben sich gar nicht verändert, nur SPD, FDP, CDU und Grüne haben sich verändert. Es kam zur „Wählerverwirrung durch Programmvertauschung“, wie Sloterdijk feststellte.

Die Grünen sind plötzlich nicht mehr pazifistisch

Die Grünen sind plötzlich nicht mehr pazifistisch, sondern bellizistisch gestimmt. Heute bekommt ein Anton Hofreiter, der in jeder Talkshow für die Aufrüstung der Ukraine streitet, von seiner Partei Applaus, wo ihm früher ein Parteiausschlussverfahren gedroht hätte.

Christian Lindner war als Anwalt der Fleißigen und Erfolgreichen bestellt und tritt plötzlich als Trauzeuge einer rot-grünen Ehe auf. Ständig ist von leeren Kassen die Rede, obwohl das Steueraufkommen noch nie so hoch war wie heute. Nicht wenige Steuerbürger haben das Gefühl, Teil einer großangelegten Plünderung zu sein, bei der sich der Plünderer noch darüber beschwert, dass nicht mehr zu holen war.

Die SPD knüpft mittlerweile auch dem Facharbeiter jenes Geld ab, das sie anschließend in großen Säcken an Nicht-Arbeiter verschenkt. Früher nannte man das Arbeitslosengeld „Stütze“ und heute Bürgergeld, als sei das Einkommen ohne Arbeit die neue Normalität und der Hartzer der neue Citoyen.

Ehrliche Feedback der ehemaligen SPD-Wähler ist wertvoll

Das kann man so sehen. Das kann man auch so machen. Aber nur wenn man dafür die gesellschaftliche Unterstützung besitzt.

Wenn aber die ehemaligen Stammwähler – also fleißige Arbeiter und aufstiegswillige Angestellte – ihrer alten Partei bei dieser Umwidmung der Gelder, der Werte und der Worte nicht folgen, sollte man nicht beleidigt, sondern dankbar sein.

Das ehrliche Feedback der ehemaligen SPD-Wähler ist wertvoll. Es ist ihre Form der Zärtlichkeit. Sie sind keine geborenen AfD-Wähler. Sie haben nur diesmal AfD gewählt. Das ist nicht das Gleiche.

Viele von ihnen wollen nur, dass ihre Partei wieder so wird, wie sie einmal war. Sie wollen den Arbeitslosen nicht verelenden sehen, ihn aber auch nicht schwer beladen mit Flatscreen und PlayStation im MediaMarkt treffen. Sie hätten es gern, dass das organisierte Verbrechen im ARD-Tatort stattfindet und nicht in ihrer Nachbarschaft. Sie wünschen sich keinen neuen Hitler, sondern einen neuen Helmut Schmidt.

Ihre alte Partei ist schwerhörig geworden

Doch ihre alte Partei ist schwerhörig geworden. Sie kann die Wünsche ihrer ehemaligen Stammwähler nicht mehr hören und ihre Sehnsüchte nicht verstehen. Und aus ihrer Gehörlosigkeit heraus ruft die SPD-Führung den Wählern zu, beim nächsten Mal werde man alles besser erklären. Als wenn die Wähler die Schwerhörigen seien.

In ihrer Not wenden sich Millionen von Bürgern denen zu, die anders sprechen und denken – nicht nur auf der rechten Seite des Spektrums. Plötzlich schlägt die Stunde von Nonkonformisten wie Sahra Wagenknecht und Boris Palmer, die das Selberdenken nicht verlernt haben und deren Sprache authentisch ist.

 

„Eine ideologisch geschlossene Regierung wird es so schnell nicht mehr geben“, schreibt die FAZ und es klingt wie eine Beschwerde. Vielleicht sollten wir das Ende dieser ideologischen Geschlossenheit nicht beklagen, sondern feiern. Inmitten der politischen Überhitzung hat das Zeitalter der Entideologisierung begonnen, wo rechts mit links und beide mit der Mitte sprechen müssen. Die Brandmauer zwischen den Traditionsparteien und den Rändern wurde gesprengt.

Die Apokalyptiker sollten ihre Aufregungsenergie für den wirklichen Ernstfall speichern. Es wird Zeit, wieder Argumente, nicht nur Anschuldigungen auszutauschen. Die Demokratie in Deutschland ist nicht in Gefahr, nur in Gebrauch.