Gastbeitrag von Gabor Steingart - „D-Day“ ist nur eine mediale Affäre – die wahren FDP-Probleme sind andere
Die „D-Day“-Affäre der FDP wurde medial zur Staatsaffäre vergrößert. Das Erregungsgewitter wird weiterziehen – doch dann wird für die Partei erst recht eine Wand an Problemen sichtbar. Fünf Punkte zeigen die schwierige Lage der Liberalen.
Das Auffällige am D-Day-Papier der FDP ist nicht die Tatsache, dass es geschrieben wurde. Von einer professionellen Parteizentrale muss strategische Planung und ein Denken in Szenarien erwartet werden.
Das Bemerkenswerte ist die Tatsache, dass dieses Papier intern durchgestochen und anschließend medial zur Staatsaffäre vergrößert wurde. Fünf Anmerkungen zur Lage der FDP:
#1: Surrealismus in Berlin
Wie zuvor schon bei Robert Habeck und Olaf Scholz zu beobachten war, führt die unterirdische Performance der Ampelkoalition zu Reputationsverlusten bei allen Akteuren, auch bei Christian Lindner. Ihm ist es zwar gelungen, Schlimmeres, also höhere Steuern und mehr Schulden, zu verhindern. Aber daraus ist ökonomisch nichts Gutes erwachsen.
Die Stagnation ist auch seine Stagnation. Die Massenentlassungen sind auch seine Massenentlassungen. Das Bürgergeld konnte rot-grün nicht allein durchsetzen.
Christian Lindner hat seinen eigenen Grundsatz, lieber nicht zu regieren, als schlecht zu regieren, mit Füßen getreten. Wäre die Bundesrepublik ein börsennotiertes Unternehmen, müsste sie noch heute Morgen eine Gewinnwarnung veröffentlichen.
Vor diesem Hintergrund wirkt das fortgesetzte Parteiengezänk befremdlich. Der Kanzler feuert seinen Finanzminister und freut sich anschließend über ein Papier, das ihn zum Rausschmiss inspiriert haben könnte, falls er es denn gekannt hätte. Der Surrealismus hat offenbar das Museum verlassen.
#2: Putschversuch ohne Putschist
Das Virus der Zersetzung ist von der Regierung auf die FDP übergesprungen. Der Parteiaustritt des ehemaligen FDP-Generalsekretärs und heutigen Verkehrs- und Justizministers Volker Wissing ist dabei nur das Deckblatt der Krankenakte.
Auch der Parteiapparat steht offenbar nicht geschlossen hinter der D-Day-Strategie des Koalitionsbruchs. Der Widerstand wird durch die Indiskretion des Papiers, die in Wahrheit einem Putschversuch gegen das FDP-Establishment gleichkommt, öffentlich dokumentiert.
Noch ist es ein Putschversuch ohne sichtbaren Putschisten, aber das kann sich spätestens am Wahltag ändern, wenn der Ruf nach Erneuerung laut werden dürfte. Fest steht, dass die liberale Partei nunmehr geschwächt in die „offene Feldschlacht“ zieht, um den Terminus des D-Day-Papiers aufzugreifen. Hinter Lindner steht ein Brutus, der den Dolch im Gewande trägt.
#3: Medienmeute auf Treibjagd
Die journalistischen „Wegelagerer“ (Helmut Schmidt) haben sich in „die Meute“ (Herlinde Koelbl) verwandelt, exakt wie es die heute 85-jährige Starfotografin und Filmemacherin in ihrem gleichnamigen Dokumentarfilm beschreibt. Der FDP-Vorsitzende wird nicht mehr nur kritisch befragt, sondern gejagt.
Man interessiert sich nicht mehr für die Motive des Ampel-Bruchs – ökonomische Stagnation, Deindustrialisierung, Schuldenexzess –, sondern nur noch für seinen Scalp. Das Ziel lautet nicht Erkenntnisgewinn, sondern Rücktritt. Die Meute befindet sich nicht in einem Abwägungsprozess von pro und contra, sondern im Blutrausch.
Auch die Sendung von Caren Miosga konnte Lindner nicht nutzen, um das Blatt zu wenden. Er war nicht mehr der stolze FDP-Vorsitzende, sondern ihr Angeklagter. Er fand aus der Defensive nicht mehr heraus.
#4: Die Fortsetzung der Fortsetzung
Das Drehbuch der medialen Treibjagd besitzt keinen Anspruch auf Originalität. Politische Cineasten erinnern sich: Schon die Affäre rund um Bundespräsident Christian Wulff, wo ein knallrotes Bobby Car zum Kronzeugen seiner angeblichen Bestechlichkeit wurde, war ein öffentlicher Schauprozess. Die Höchststrafe der Medienrichter damals: sofortiger Rücktritt. Lebenslanger Reputationsverlust.
Das Original spielte noch in Bonn, wo der Vizekanzler und FDP-Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann in den Rücktritt geschrieben wurde, weil ein Unterschriftenautomat in seinem Vorzimmer den Einkaufschip seines Schwagers als „pfiffiges Produkt“ gepriesen hatte. Der Minister verstrickte sich in Widersprüche. Das war’s. Der Rücktritt folgte auf dem Fuße.
Seitdem erleben wir die Fortsetzung der Fortsetzung. Oder wie der damalige ARD-Hauptstadt-Journalist Hartmann von der Tann in „Die Meute“ sagt: „Wir haben im Journalismus ein Herdenproblem.“
#5: Der stille Bruderkampf hat begonnen
Im Pulverdampf des medialen Gefechts geht unter, dass die Liberalen noch an einem anderen Frontabschnitt unter Druck geraten sind. Diese Auseinandersetzung wird lautlos geführt und dürfte erst am Wahltag, wenn die Opferzahlen in Gestalt verlorener Parlamentssitze gezählt werden, ihre toxische Auswirkung zeigen.
Die Mutter aller Fehler war nicht das D-Day-Papier, sondern die Zustimmung der FDP zu einer Wahlrechtsreform, die die Erststimme de facto abschafft. Parlamentssitze werden künftig ausschließlich gemäß der Zweitstimme vergeben, weshalb die vielerorts traditionelle Arbeitsteilung – die Erststimme geht an den örtlichen CDU-Kandidaten, die Zweitstimme an die FDP – nicht mehr funktioniert.
Die CDU hat nichts mehr zu verschenken. Die „Leihstimme“, jahrzehntelang das Lebenselixier der FDP, wurde abgeschafft. Das „bürgerliche Lager“ hat aufgehört, ein Lager zu sein.
Die Auswirkungen dieser Wahlrechtsreform, die FDP-Fraktionsvize Konstantin Kuhle in grenzenloser Naivität verhandelt und anschließend parteiintern als Erfolg verkauft hat, sind für die Liberalen lebensbedrohlich. Unter der Hand werden bereits FDP-Bundestagsabgeordnete von der CDU zum Parteiwechsel aufgefordert. Nicht auszuschließen, dass eine wirtschaftlich orientierte Merz-CDU weite Teile der FDP in sich aufsaugt – erst ihre Wähler und dann ihre Parteifunktionäre.
Fazit: Das mediale Erregungsgewitter über das D-Day-Papier wird weiterziehen. Aber die Problemwand, die sich vor der FDP aufgebaut hat, ist steiler, mächtiger und in ihrer Massivität abweisend. Auf dem direkten Weg ist sie nicht mehr besteigbar. Oder um es mit dem Dramatiker Botho Strauß, der heute seinen 80. Geburtstag feiert, zu sagen:
„Der Wahn des Einfältigen ist die blinde Wut. Der Wahn des Gewitzten ist die Selbstreflektion.“