Gastbeitrag von Gabor Steingart - Deutschland schafft sich ab - wir haben eine Worst-Case-Society gebildet
Wir haben Angst vor Putin, Angst vor Trump, Angst vor einem Atomkrieg. Wir erwarten die Zukunft nicht mehr freudig, sondern fürchten sie. Der Moment, um zu fragen: Wäre es nicht bekömmlicher, von Angst auf Neugier umzusatteln?
Auch Nationen können in eine Midlife-Crisis geraten. Deutschland steckt mittendrin. Unsere Sinnkrise ist geprägt von der nostalgischen Verklärung der Vergangenheit und einem Feuerwerk düsterer Erwartungen für die Zukunft.
Wir haben Angst vor Putin und noch mal Trump . Wir fürchten die Dominanz der Nato genauso wie die Idee, sie könnte sich aus Europa zurückziehen.
Hinter jedem Schusswechsel an der Ostfront der Ukraine lauert der Atomkrieg. Der Klimawandel wurde von den Medien zur Klimakatastrophe umformatiert.
Der fröhliche Nachbar macht sich verdächtig
Die Künstliche Intelligenz übersetzt selbst Yuval Noah Harari als Einmarsch der Außerirdischen, als „Alien Intelligence“. Nach 45 Millionen verkauften Büchern weiß der Mann: Apokalypse geht immer, Gelassenheit ist unverkäuflich.
So verbringen wir die Zeit zwischen Zukunft und Vergangenheit, also unsere Gegenwart, vor allem übellaunig. Ab morgens um sieben wird zurückgegrummelt. Wer gute Laune hat, ist selber schuld. Der fröhliche Nachbar macht sich verdächtig.
Wir erwarten die Zukunft nicht mehr freudig, sondern fürchten sie. Wir genießen die Gegenwart nicht, sondern erdulden sie.
Wir haben eine Worst-Case-Society gebildet, in der sich die politischen Extreme problemlos auf das apokalyptische Szenario verständigen können. Deutschland schafft sich ab. The house is on fire.
Dämonen der Gegenwart sehen aus wie Trump und Putin
Die Medien als professionelle Angstverkäufer spielen hier eine wichtige Rolle. Sie liefern die Vorprodukte, die dann in den Munitionsfabriken der Parteien zu Dämonen verschweißt werden.
Die Dämonen der Gegenwart sehen aus wie Trump, Putin und Höcke, aber auch „der Chinese“, „der Migrant“ und „die Israelis“ leisten einer schreckhaft gewordenen Gesellschaft gute Dienste.
Die Zukunft hat derweil ihren guten Ruf verloren. Sätze, die mit den Worten „Künftig werden wir…“ oder „In Zukunft erwartet uns…“ beginnen, enthalten in aller Regel keine Ermutigung, sondern eine Prognose aus dem Reich der Düsternis. Die Zukunft können wir uns nur noch als eine Endlosschleife von Zumutungen vorstellen.
Vielleicht ist der heutige Montag gut geeignet, um für einen Moment innezuhalten und der Gegenwart eine Chance zu geben. Wir leben in einer Zwischenzeit, die wir womöglich schon bald als die goldene bezeichnen werden.
Noch wird Deutschland von der Ampel regiert
Diese Gegenwart ist besser als ihr Ruf. Noch hat in den USA der klapprige, aber in seiner Klapprigkeit verlässliche Joe Biden das Kommando. Noch wird Deutschland von der Ampel regiert , nicht von einer Notregierung.
Noch wird im Donbass gekämpft und nicht in den Vororten von Berlin. Noch gelingt es, den Abstieg des Westens mit einem Extraschuss Kredit zu dämpfen. Vielleicht werden wir im Rückblick sagen: Die Gegenwart des Herbstes 2024 war die beste Gegenwart, die man sich für Geld kaufen konnte.
Natürlich können wir unseren „Vergänglichkeitsschmerz“, um das Wort der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch aufzugreifen, auch mit immer neuen Phobien aufladen und die Bundesrepublik zum Flagship-Store der Apokalypse ausbauen.
Vielleicht sollten wir von Angst auf Neugier umsatteln
Die Exponate der befürchteten Vergänglichkeit stehen bereits im Schaufenster: der Weltfrieden und die Demokratie.
Aber vielleicht wäre es uns bekömmlicher, von Angst auf Neugier umzusatteln. Die Schweizer Philosophin wirbt für einen Perspektivwechsel: „Das Leiden an der Vergänglichkeit ist bisweilen nur ein Zeichen für eine besonders glückliche Gegenwart.“