Gastbeitrag von Gabor Steingart - Drei Gründe, warum Merz und Scholz jetzt zusammenarbeiten müssen
Die Bundesrepublik im Jahr 2024 steht vor großen Herausforderungen: Gewalt, Wirtschaftskrise und politischer Stillstand. Nur ein überparteilicher Ansatz nach dem Vorbild des Wiener Kongresses kann jetzt noch helfen. Die Zeit drängt, Deutschland muss handeln.
Nach den Aufwühlungen der Französischen Revolution und dem Sturz Napoleons war Europa in Verwirrung vereint. Die Welt der Nationalstaaten und der Fürstentümer hatte sich selbst aus den Angeln gehoben. Sie musste neu eingehängt werden.
Unter Leitung des österreichischen Außenministers Fürst von Metternich traf man sich vor ziemlich genau 210 Jahren in Wien. Rund 200 Bevollmächtigte von Staaten, Städten und Fürstenhäusern tagten neun Monate lang in der Stadt des Jugendstils und des Barocks. Unterbrochen und umrahmt, inspiriert und zur Kommunikation animiert von festlichen Abendessen, klassischer Musik und pompösen Bällen suchte und fand man wieder zueinander.
„Der Kongress tanzt“, so beschrieb ein Schriftsteller in einem Brief an den französischen Staatsmann Talleyrand diese gleichermaßen friedliche wie vergnügliche Form der Verständigung. Der tanzende Kongress – der einen neuen Krieg verhinderte, die freie Flussfahrt in Europa garantierte und erstmals die Sklaverei ächtete – war eine Weltpremiere. Und vor allem war er die Alternative zu Krieg und Hass, zur weiteren Polarisierung, Fraktionierung und Brutalisierung der Gesellschaften.
Die Bundesrepublik des Jahres 2024, geschockt von einer Serie islamistischer Gewalt, im ökonomischen Niedergang begriffen und im Parteienhader gefangen, könnte einen solchen partnerschaftlichen Ansatz gut gebrauchen. Das gestrige Treffen von Kanzler und Oppositionsführer war einerseits heftig (Merz: „Dem Bundeskanzler entgleitet das Land“) und andererseits doch eine Lockerungsübung:
„Der Zeitpunkt ist gekommen, an dem die demokratischen Parteien der politischen Mitte zu gemeinsamen Lösungen kommen sollten.“
Auch die Welt der Deutschen wurde aus den Angeln gehoben – im Äußeren wie im Inneren. Keiner allein kann diesen Herausforderungen begegnen, was erstens an der Komplexität der Probleme und zweitens an der föderalen Verfasstheit unseres Staates liegt:
1. Migration
Die Zunahme der illegalen Migration bei gleichzeitig verschärfter Sicherheitslage fordert den Staat heraus. Im vergangenen Jahr wurden bei insgesamt 351.915 neuen Asylanträgen nur 16.430 Menschen abgeschoben. Damit kommen auf eine Abschiebung 21 neue Asylanträge. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul sagt:
„Die Zahl derer, die zu uns kommen, ist zu groß. Die Probleme kriegt man nur gelöst durch Zugangsbeschränkungen.“
Nach den Messerattentaten von Mannheim und Solingen und in Erwartung weiterer Grausamkeiten machen die Schuldzuweisungen von Regierung und Opposition keinen Sinn. Es gibt keine SPD-Attentate, so wie es keine CDU-Migration gibt. Wer anderes behauptet, will die Deutschen nicht beschützen, sondern verdummen. Es braucht eine Zeitenwende, auch in der Migrationspolitik.
2. Krieg
Deutschland wird durch Putins Russland im Moment nicht angegriffen, aber herausgefordert. Und angesichts der jederzeit möglichen Eskalation der Lage – in der Ukraine, in Belarus, in der Republik Moldau – ist unklar, ob wir nicht von der Nachkriegszeit nahtlos in eine neue europäische Vorkriegszeit übergegangen sind.
Die militärische Aufrüstung der Bundesrepublik und der Aufbau europäischer Streitkräfte erfordern eine Repriorisierung der Agenda – und auch der Staatsfinanzen. Der Sozialstaat in seinem bisherigen Umfang und seinem bisherigen Expansionstempo steht zur Disposition. Der Aufrüstung der Armee wird eine Abrüstung des Wohlfahrtsstaates folgen müssen.
3. Abstieg
Der ökonomische Abstieg des Landes ist nicht das Ergebnis einer Regierung, sondern das Resultat zweier Dekaden. Auf der Reformbaustelle wurde seit der Abwahl von Reformkanzler Gerhard Schröder im November 2005 nicht mehr gearbeitet. Niemand traute sich, die Ausgaben den Einnahmen, die Vielzahl der gesellschaftlichen Ansprüche den begrenzten ökonomischen Möglichkeiten anzupassen.
Politische Regulierungswut und ein sich weitgehend selbst überlassener bürokratischer Apparat wirken wie ein Nervengift auf die Volkswirtschaft. In Deutschland wird weiter gearbeitet, aber kaum noch erfunden. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt stagniert, derweil die Ausreichungen des Sozialstaates weiter expandieren. Der produktive Kern des Landes wird durch die ständige Energieentnahme verkleinert. Deutschland erlebt gegenüber den anderen großen Industriemächten seinen relativen Abstieg.
Fazit: Die Politiker sollten nach den ostdeutschen Landtagswahlen ein überparteiliches Tänzchen wagen. Jetzt ist nicht die Zeit für Polarisierung und Parteienhader. Es ist die Zeit der Versammlung und einer Neuordnung der öffentlichen Angelegenheiten gekommen. Oder um mit Fürst Metternich zu sprechen:
„Nur auf dem Begriff von ‚Ordnung‘ kann jener der ‚Freiheit‘ ruhen.“