Gastbeitrag von Gabor Steingart - E-Autos, IG Metall, Haustarif, Innovation: VW sitzt nicht nur in der China-Falle
Volkswagen steht vor einem beispiellosen Umbruch. Der einstige Weltmarktführer kämpft mit Milliardenverlusten, sinkenden Marktanteilen und drohenden Werksschließungen. Die VW-Krise in fünf Punkten.
Im Video oben: Schließt VW ein Werk in Deutschland, sind diese drei besonders gefährdet
Die Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik ist aufs Engste mit dem Aufstieg von Volkswagen verknüpft. Das von den Nazis aufgebaute Werk in Niedersachsen, um das herum die Stadt Wolfsburg erst entstand, wuchs nach dem Krieg in Staatshand zu erster Größe. Dann der Börsengang 1960. Die erste Volksaktie wurde ganz nach der Devise von Ludwig Erhard emittiert: „Eigentum für alle“, sagte Mister Wirtschaftswunder.
Bereits Mitte der 1950er-Jahre gelang der Durchbruch in Europa, Amerika und Afrika. Vorstandschef Toni Schmücker baute den Konzern in den 70er-Jahren aus und kaufte neue Marken hinzu. Unter Carl Horst Hahn stieg Volkswagen in den 80er-Jahren zum Global Player auf.
Diese über jeden Zweifel erhabene Volkswagen AG gibt es nicht mehr. 2023 verkaufte Toyota fast zwei Millionen mehr Fahrzeuge als VW. In China hält der Konzern nur noch einen Marktanteil von rund 14 Prozent. Und an der Börse ist der Wert geschmolzen wie der Käse in der Raclettepfanne. Gegenüber dem Allzeithoch im März 2015 hat die Aktie rund 60 Prozent an Wert verloren.
Wenn heute in Wolfsburg über die Aufkündigung der Jobgarantie für die deutschen Belegschaften nachgedacht wird und Werksschließungen erwogen werden, dann ist die Krise für jedermann sichtbar. Hier die Schadensbilanz in fünf Punkten:
#1 Der Sozialstaat im Staate
Der Haustarifvertrag von Volkswagen war lange ein Standortvorteil. Inzwischen gilt er als Hemmschuh. Die Löhne und Gehälter liegen oft höher als bei der Konkurrenz. 2023 stiegen die Personalkosten des Konzerns auf knapp 50 Milliarden Euro inklusive Aufwendungen für die Altersvorsorge – ein Plus von neun Milliarden Euro gegenüber 2020.
Ein Auswuchs ist der „Tarif Plus“ – ein Zwitter zwischen Konzernmanagement und Tarifangestellten. Nicht selten erreichen die Tarifangestellten inklusive Boni Jahresgehälter von 120.000 bis 150.000 Euro. Ende 2023 befanden sich 9000 Mitarbeiter in dem Tarif. Das System sei „aus den Fugen geraten“, zitiert das Handelsblatt einen VW-Manager.
Konzernchef Blume:
„Es geht jetzt um Kosten, Kosten, Kosten.“
#2 Die Innovationsbremse
Ex-VW-CEO Herbert Diess erdachte vor vier Jahren die Softwareeinheit Cariad. Der Grundgedanke: Volkswagen programmiert sich seine eigene Softwarearchitektur. Heute wissen alle: zu teuer, zu komplex.
Die Konzernmarken kaufen die Software nun zu. VW etwa setzt bei der Steuergerätearchitektur auf das Know-how des US-Elektroautobauers Rivian. Kostenpunkt: fünf Milliarden Euro.
#3 SPD und IG Metall
Der Konzern war immer ein niedersächsisches Politikum – auch zum eigenen Nachteil. Dank des VW-Gesetzes muss das Management auf die Regierung in Hannover Rücksicht nehmen. Das Land hält 20 Prozent der Aktien – und kann strategische Entscheidungen wie Massenentlassungen blockieren.
Ex-Volkswagen-Chef Herbert Diess nahm die IG-Metall frontal an, biss sich an den Gewerkschaftern aber die Zähne aus. CEO Oliver Blume gibt sich – bislang – geschmeidiger. Die geplanten Werksschließungen werden zum Showdown. Betriebsratschefin Daniela Cavallo verkündete bereits:
„Der Vorstand stellt nicht weniger als die gesamte Kernmarke VW infrage. Wir werden nicht zulassen, dass wir hier abgewickelt werden.“
#4 Die China-Falle
Volkswagen wächst nur noch langsam in China, während die chinesischen Marken aufholen. Im Jahr 2023 verkaufte VW 3,2 Millionen Fahrzeuge, Verbrenner und E-Autos – ein Plus von 1,6 Prozent. Zum Vergleich: VWs größter chinesischer Rivale BYD verkaufte rund drei Millionen Autos. Der Absatz steigerte sich um rund 50 Prozent.
Im Feld der E-Automobile fährt VW demnach unter ferner liefen. Die neue Konzernstrategie „in China, für China“ soll Abhilfe schaffen und auf eine stärkere Markt- und Kundenorientierung vor Ort abzielen.
#5 Die Fehlkalkulation mit den E-Autos
Probleme gibt es nicht nur in China, sondern auch in Europa. Volkswagen trifft den E-Geschmack der Massen nicht. Der Absatz der Elektroautos von Volkswagen in Deutschland sank im ersten Halbjahr 2024 im Vergleich zum Vorjahr um rund 15 Prozent.
Die Beratungsfirma USCALE hat Käufer von Elektroautos in einer groß angelegten Studie befragt, ob sie ihr Auto weiterempfehlen würden. Bei der Kernmarke VW liegt die Weiterempfehlungsrate bei nur 37 Prozent. Einen Tesla würden fast 70 Prozent weiterempfehlen. „Die Marke VW steht bei Elektroautos nur noch für Mittelmaß“, sagt USCALE-Chef Axel Sprenger.
Fazit: VW kämpft – und muss auch kämpfen. Für die jetzige Misere gibt es viele Verantwortliche – und die wenigsten davon sitzen im Betriebsratsbüro.