Gastbeitrag von Gabor Steingart - Wir erleben den Deutschland-Alarm - die Ampel sollte nicht dagegen anschreien
Weil die Wähler in Thüringen und Sachsen sich einen sozialen und starken Staat wünschen, haben AfD und BSW profitiert. Die Alarmglocken der Demokratie schrillen. In Berlin dürften sie nicht zu überhören sein. Vor allem bei der FDP rumort es.
Wenn in der Werkshalle die Sirene ertönt, ist Wachsamkeit geboten. Die Sirene ist der unüberhörbare Hinweis auf einen Fehler im System.
Die Sirene ist nicht klug und nie schön, nur effektiv.
Die Sirene ist immer schrill und daher vorsätzlich unangenehm.
Die Sirene warnt vor dem nächstgrößeren Unheil.
Und: Die Sirene ist niemals die Lösung.
Die Zweiton-Sirene des gestrigen Abends funkt auf der Frequenz AfD und auf der Frequenz Bündnis Sahra Wagenknecht. Die Anti-Ausländer-Partei und Anti-Europa-Partei der Alice Weidel hat bei den Landtagswahlen in Thüringen die Position eins und in Sachsen die Position zwei erreicht. Sahra Wagenknecht konnte SPD und Linkspartei in beiden Bundesländern deklassieren.
Das Ergebnis: In Thüringen wurde Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei abgewählt. In Sachsen hat CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer seine Führung knapp verteidigt.
Die Ost-Wähler wünschen sich einen sozialen und starken Staat
Die Berliner Ampelregierung hat der Wähler in beiden Ostländern in all ihren Bestandteilen rasiert: SPD miniaturisiert. Grüne marginalisiert. FDP liquidiert. Und Sahra Wagenknecht, eben noch die Außenseiterin des politischen Betriebs, stellt auf dem Marktplatz ihr Feldherrenzelt auf.
Der Auslöser für die Sirene, das ergab die Wahlforschung, waren die Zustände an den Außengrenzen der Bundesrepublik, wo der Staat die illegale Migration nicht in den Griff bekommt, und die Zustände in den Städten, wo das organisierte Verbrechen sich ausgebreitet hat. Die Mehrzahl der Wähler in beiden Ostländern wünscht sich den sozialen, aber eben auch den starken Staat.
Die Sirene zu beschimpfen, macht keinen Sinn. In der Werkshalle würde sich kein Werksleiter vor ihr aufbauen, um gegen sie anzuschreien. Nicht mal der Ausschalter, also ein Parteienverbot, würde helfen, denn mit der Fehlermeldung verschwindet ja der Fehler nicht aus dem System.
Der Fehler im System muss gefunden werden
Bertolt Brecht trat in seinem Gedicht „Die Lösung“ den Rückzug in die Satire an:
„Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt; könnte es da nicht doch einfacher sein, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“
Die Alternative zur Satire und der real satirischen Ignoranz der etablierten Parteien wäre es, wenn der Werkschutz endlich ausrückte, um den Fehler im System zu finden und abzustellen. Man kann den gestrigen Wahlabend auch positiv sehen:
Die Sensorik, also die Fehlermeldung durch die Wahlberechtigten, hat funktioniert. Die Sirene in Sachsen und Thüringen klang derart schrill, dass man ihren Ton bis nach Berlin hörte. Man nennt das Verfahren Demokratie.
Voigt gibt sich in Thüringen selbstsicher
CDU-Spitzenkandidat in Thüringen, Mario Voigt, war angetreten, um den AfD-Mann Höcke zu schlagen. Das hat nicht geklappt. Im Pioneer-Interview gibt er sich allerdings selbstsicher. Denn er wird, wenn alles glattläuft, auch als Zweitplatzierter bald zum Ministerpräsidenten gewählt:
„Die CDU wird die Gespräche führen, sodass wir versuchen, stabile und vernünftige Verhältnisse hinzubekommen.“
Voigt hebt den Finger in Richtung Berlin:
„Wir sind die stärkste Partei in der politischen Mitte. Rot-Rot-Grün ist abgewählt und die Ampel in Berlin abgestraft.“
Ein Grund für die Wahlschlappe der Ampel: die Migrationspolitik. Voigt kritisiert:
„Dass man jetzt vonseiten der Ampel kurz vor einer Landtagswahl weiße Salbe versucht aufzutragen, das wird nicht reichen. Es braucht eine grundsätzliche Wende in der Migrationspolitik. Die CDU hat da sehr präzise Vorschläge gemacht.“
Für die CDU könnte sich die Wahl als Pyrrhussieg erweisen
Meine Kollegen aus „Hauptstadt – Das Briefing“ haben sich in den Parteien umgehört. Für die CDU könnte sich die vorläufige Stärkung aufgrund der schwierigen Mehrheitsverhältnisse im Osten noch als Pyrrhussieg erweisen. Denn die Partei ist auf die Zusammenarbeit mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht angewiesen.
Der ehemalige Außenminister und Vizekanzler der SPD, Sigmar Gabriel, blickt im Pioneer-Podcast auf den Zustand der Sozialdemokratie in den Ost-Bundesländern und stellt mit bewegter Stimme fest:
„Das anzusehen, ist bitter. Ich war mal Vorsitzender der SPD. Und zu sehen, wie die über 160 Jahre alte Partei um die Fünf-Prozent-Hürde kämpfen muss. Das ist nichts, was man gerne sieht.“
Gabriel kritisiert Ausweitungen der Sozialleistungen
Ein Grund für das starke Abschneiden der AfD in beiden Bundesländern war das Thema Zuwanderung. Laut infratest dimap war das in Thüringen für 18 Prozent das wahlentscheidende Thema war – in Sachsen für 19 Prozent. Wenn die Parteien der Mitte dieses Thema aufrichtig adressieren wollen, gilt für Gabriel: Nicht reden, sondern machen. Im Wortlaut sagt er:
„Wenn es dabei bleibt, dass es nur Gerede ist, dann wird das, was wir gesehen haben, sich fortsetzen. Die Parteien müssen sich wirklich fragen, wie ernst sie es damit meinen, dass sie die Bundesrepublik Deutschland in ihren Grundfesten solide halten wollen.“
Die Ausweitung der Sozialleistungen hält er für den falschen Fokus der Gegenwarts-SPD:
„Offensichtlich ist es nicht so, dass die dramatische Ausweitung der Sozialleistungen in Deutschland dazu führt, dass man sozialdemokratisch wählt. Wenn das ein Grund wäre, dann müsste die SPD eine Zweidrittelmehrheit haben. Hat sie aber nicht.“
New York Times sieht bedrohliche Symbolik
Die taz titelt:
„Letzte Ausfahrt: CDU.“
In einem Kommentar findet Berthold Kohler, Herausgeber der FAZ, klare Worte:
„Die kümmerlichen Prozente, die die Ampelparteien in Sachsen und Thüringen noch bekamen, besagen unmissverständlich: Versetzung ausgeschlossen.“
Alexander Kissler schreibt in der NZZ:
„Von einer ‚Brandmauer‘ kann jene Partei am stärksten profitieren, deretwegen diese errichtet wurde.“
Die BILD heute Morgen:
„Deutschland wacht blau auf!“
Auch die New York Times interessiert sich für die Wahlen im Osten und schreibt:
„Die symbolische Bedeutung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, dass eine rechtsextreme Partei in Deutschland fast acht Jahrzehnte nach dem Ende der Nazizeit eine Mehrheit der Stimmen gewinnen konnte.“
Lindner gibt sich nicht einsichtig, sondern kämferisch
Für die FDP waren die Landtagswahlen ein Desaster. Christian Lindner gab sich nicht einsichtig, aber dafür kämpferisch:
„Die Ergebnisse in Sachsen und Thüringen schmerzen. Aber niemand soll sich täuschen, denn wir geben unseren Kampf für liberale Werte nicht auf. Schon morgen geht es wieder weiter.“
Aber wie weiter? Wolfgang Kubicki hat offenbar andere Vorstellungen von der Fortsetzung des Kampfes. Der Vizepräsident des Deutschen Bundestages ist nicht Teil der Bundesregierung und daher freier im Denken. Auf X schrieb er gestern Abend:
„Das Wahlergebnis zeigt: Die Ampel hat ihre Legitimation verloren. Wenn ein beträchtlicher Teil der Wählerschaft ihr in dieser Art und Weise die Zustimmung verweigert, muss das Folgen haben.“
Weiter:
„Die Menschen haben den Eindruck, diese Koalition schadet dem Land. Und sie schadet definitiv der Freien Demokratischen Partei.“
Der FDP-Chef wird jetzt belauert
Fazit: Der FDP steht eine erneute Debatte über Sinn oder Unsinn ihres Verbleibs in der Ampel bevor. Christian Lindner hat durch die Abfolge von FDP-Wahlniederlagen in NRW (minus 6,7 Prozentpunkte), Niedersachsen (minus 2,8 Prozentpunkte), Berlin und Hessen (jeweils minus 2,5 Prozentpunkte) und jetzt Sachsen und Thüringen nicht seinen Job, wohl aber den Nimbus des Unbesiegbaren verloren.
Er ist für viele der Jäger, der keine Beute mehr macht. In der Partei wird der Vorsitzende nicht mehr nur bewundert, sondern jetzt auch belauert.