Gastbeitrag von Gabor Steingart - Kein Helmut Schmidt 2.0 - warum Olaf Scholz ihm nicht das Wasser reichen kann
Im Gegensatz zu Helmut Schmidt vermeidet Olaf Scholz eine öffentliche Debatte über die Raketenstationierung. Während Schmidt seinerzeit auf Transparenz setzte, schweigt Scholz und schließt den Bundestag aus.
Olaf Scholz ist kein zweiter Helmut Schmidt. Das erkennt man an vielen Dingen, vor allem aber an der Russlandpolitik.
Zunächst die eine große Gemeinsamkeit: Helmut Schmidt erspähte damals eine „Raketenlücke“, weil der Westen den Mittelstreckenraketen der Sowjets vom Typ SS 20 keine vergleichbare Waffe entgegenzusetzen hatte. Das Gleichgewicht des Schreckens war für ihn aus der Balance geraten.
Olaf Scholz und sein Verteidigungsminister sehen heute eine „Fähigkeitslücke“, weil Russland in Kaliningrad und Belarus nuklearfähige Mittelstreckenraketen stationiert hat, denen der Westen seit der Demontage und Verschrottung der Pershing-II-Raketen und der Cruise-Missile-Marschflugkörper ebenfalls nichts Vergleichbares entgegenzusetzen habe.
Deshalb hat Scholz im Juli bei der Nato-Tagung in Washington, scheinbar nebenbei, die Stationierung von US-Tomahawk-Marschflugkörpern und SM-6 Raketen zugesagt. Noch in Washington verkündete Scholz:
„Das erhöht die Sicherheit wegen der Abschreckungswirkung, weil Russland nicht mehr aus sicherem Hinterland angreifen kann.“
Doch genau hier beginnen die Unterschiede zwischen Scholz und Schmidt.
1. Scholz verkündet, aber kommuniziert nicht
Der Oberleutnant der Wehrmacht und spätere Kanzler Helmut Schmidt hatte bereits zwei Jahre vor dem Nato-Doppelbeschluss seine Absichten der Öffentlichkeit erklärt. Noch vor dem Beschluss der Nato-Mitgliedstaaten bei einer Konferenz in Brüssel trug Schmidt, seit drei Jahren Hausherr im Kanzleramt, am 28. Oktober 1977 in London seine Idee einer „Doppelstrategie für Abschreckung und Entspannung“ vor. Der Vorbote des Doppelbeschlusses. In einer Sitzung des Nato-Rates erklärte er dann 1979 seine Absichten:
„Nachrüstung so weit wie nötig zur Herstellung des ungefährlichen Gleichgewichts, aber so weit wie möglich brauchen wir eine gegenseitig vereinbarte Rüstungsbegrenzung.“
Unter dem Druck der Bevölkerung und der SPD-Linken verteidigte er in einer Plenardebatte seine Entscheidung, auch als sich im Oktober 1981 auf der Bonner Hofgartenwiese rund 400.000 Menschen versammelten:
„Unser Ziel bleibt das gleiche Gewicht der militärischen Kräfte auf beiden Seiten.“
Scholz will sich nicht erklären. Nachdem die Entscheidung am Rande des Gipfels in Washington getroffen war, gab er zu Protokoll:
„Diese Entscheidung ist lange vorbereitet und für alle, die sich mit Sicherheits- und Friedenspolitik beschäftigen, keine wirkliche Überraschung.“
2. Der Deutsche Bundestag soll diesmal nicht befasst werden
Unter Berufung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1984 soll es keine offizielle Befassung des Bundestages mit diesen neuen Raketen geben. Eine Abstimmung im Plenum sei nicht notwendig, sagen die Bundestagsjuristen.
Schmidt und später Helmut Kohl hätten formaljuristisch ihre Nachrüstungsentscheidung ebenfalls ohne Einbezug des Bundestages treffen können. Doch sie taten es nicht.
Kohl trug den Nato-Doppelbeschluss vor die Parlamentarier, die schließlich mit einer knappen Mehrheit für die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen stimmten. Schmidt hatte zuvor seine parlamentarische Mehrheit verloren.
Olaf Scholz will diese Debatte möglichst vermeiden. Die SPD-Fraktion rund um Rolf Mützenich werde zwar „selbstverständlich“, wie es in einer internen Mail heißt, nach der Sommerpause die Raketenstationierung auf die Tagesordnung setzen. Doch die Parlamentarier dürfen nur sprechen, nicht entscheiden. Eine parlamentarische Legitimierung der atomaren Nachrüstung ist nicht vorgesehen.
3. Das fehlende Verhandlungsangebot
Der Nato-Doppelbeschluss, den Schmidt initiierte und Kohl vollendete, heißt deswegen Doppelbeschluss, weil er neben der Stationierung von Raketen ein Verhandlungsangebot an die Russen enthielt. Genau das fehlt bei Scholz.
Während der heutige Kanzler der Stationierung atomar bestückter US-Waffensysteme ohne weitere Konditionen zustimmte, erfolgte die damalige Stationierung als Resultat gescheiterter Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion. Diese Gespräche – also der Teil zwei des Doppelbeschlusses – fanden ab November 1981 in Genf unter der Führung der USA statt.
Sie endeten zwar ohne Erfolg, führten aber vier Jahre später doch noch zum INF-Vertrag (zu dt. „Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen“), also zur Verschrottung von Pershing-II und SS-20. Schmidts Nachrüstung endete – wie von ihm gewünscht – mit der Abrüstung.
Fazit: Olaf Scholz ist nur der halbe Schmidt. Die andere Hälfte, die aus Kommunikation, Legitimation und einem Verhandlungsultimatum an die Russen besteht, muss nachgeholt werden – im Zweifel vom Scholz-Nachfolger.