Gastbeitrag von Gabor Steingart - Linker und sozialer: Mit dieser Agenda will Harris Trump schlagen

Kamala Harris<span class="copyright">The Pioneer</span>
Kamala HarrisThe Pioneer

Im aktuellen US-Wahlkampf prallen zwei Welten aufeinander: Kamala Harris präsentiert sich als Verfechterin von Arbeitnehmerrechten und sozialem Fortschritt, während Trump auf konservative Wirtschaftspolitik und fossile Brennstoffe setzt. Kann Harris´ Agenda verfangen?

Das mit Abstand wichtigste Thema der amerikanischen Wähler ist derzeit die wirtschaftliche Lage. Der Themenradar von Newsweek ergab:

Für 60 Prozent der Umfrageteilnehmer ist die Wirtschaft das Entscheidende. Entsprechend positionieren sich beide Kandidaten als wirtschaftsfreundlich, wobei die Unterschiede in der Definition dessen, was als wirtschaftsfreundlich gilt, gravierend sind.

Trump ist ein konservativer Wirtschaftspolitiker klassischer Bauart. Er setzt auf eine Verbesserung der Angebotsbedingungen für die Firmen, um so die Profitabilität zu erhöhen und neue Investitionen anzulocken. Wirtschaftswachstum. Börsenaufschwung. Und fossile Brennstoffe im Dutzend billiger: Drill, baby, drill.

 

Harris: Verfechterin des starken Sozialstaates

Kamala Harris adressiert keine 48 Stunden nach ihrem Eintritt in den Wahlkampf eine komplett andere Zielgruppe. Sie zeigt sich als Freundin der Gewerkschaftsbewegung und Verfechterin des starken Sozialstaates. Sie konzentriert sich auf die sogenannte „Care Economy“, also den Zugang zu Kinderbetreuung, bezahltem Familienurlaub und eine Verbesserung der Bildungsfinanzierung.

Ihre Aussagen besitzen einen parlamentarischen Vorlauf und basieren auf Plänen, die Biden als Teil seines Milliarden-Programms „Build Back Better“ bisher nicht durch den Kongress bringen konnte. Spend, baby, spend.

Zugleich baut sie darauf, dass starke Arbeitnehmerorganisationen ihr bei der Durchsetzung helfen. Auf einer Veranstaltung in Houston, Texas, mit Mitgliedern der American Federation of Teachers, der zweitgrößten Lehrergewerkschaft des Landes, sagte sie:

„Einer der besten Wege, unser Land voranzubringen, besteht darin, den Arbeitnehmern eine Stimme zu geben: die Freiheit zu schützen, und zwar die Freiheit, kollektiv zu verhandeln, zu verteidigen und gewerkschaftsfeindliche Praktiken zu beenden.“

Harris positioniert sich linker und progressiver

Damit eröffnet sie eine politische Option, die sich deutlich von seinem Angebot unterscheidet. Sie positioniert sich linker und progressiver. Sie adressiert die Arbeiterklasse, Rentnerinnen und Rentner, Schwarze und Hispanos, den öffentlichen Dienst und damit eine Koalition, die von den Bernie-Sanders-Fans über die Obama-Wähler zu den gewerkschaftlichen Aktivisten reicht.

Sie knüpft in der Tonalität an die großen Sozialreformer im Weißen Haus an, auch wenn sie sich bisher nicht expressis verbis auf sie bezieht. Ihre Kampagne reflektiert die in Deutschland oft übersehene Tatsache, dass linke Präsidenten zu den erfolgreichsten Wahlkämpfern der USA zählen. Amerika ist erzkapitalistisch, die Politik aber wird oft als Korrektiv angerufen.

Der New Deal (1933-1939) von Präsident Franklin D. Roosevelt war die sozialdemokratische Antwort auf die Weltwirtschaftskrise. Der Demokrat begründete eine Phase der Sozialreformen, darunter der Social Security Act von 1935, also die erstmalige Einführung einer Sozialversicherung zur Unterstützung von Rentnern, Arbeitslosen und anderen Bedürftigen.

Roosevelt wurde dreimal zum Präsidenten wiedergewählt – am triumphalsten 1936 mit 60,2 Prozent der abgegebenen Stimmen und einem Sieg in 46 von damals 48 Bundesstaaten. Roosevelt blieb insgesamt zwölf Jahre Präsident und verstarb im April 1945 im Amt. Erst danach wurde die Verfassung so verändert, dass kein Präsident mehr als einmal wiedergewählt werden kann.

Seit Obama besitzt jeder Amerikaner Anrecht auf medizinische Basisversorgung

Noch erfolgreicher an der Wahlurne war der Demokrat Lyndon B. Johnson, der zunächst als Notlösung nach der Ermordung von Kennedy ins Amt kam. Seine Great Society (1964-1965) zielte darauf ab, Armut und Rassendiskriminierung zu bekämpfen.

Im Civil Rights Act (1964) setzte er das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft durch und schuf 1965 mit Medicare und Medicaid – also der Einführung von Krankenversicherungsprogrammen für ältere Menschen und andere Bedürftige – jenes sozialstaatliche Fundament, das der Sozialreformer Obama mit seiner Idee von Obama Care – offiziell der Affordable Care Act von 2010 – dann erweiterte.

Warum das wichtig ist: Seither besitzt jeder Amerikaner das Anrecht auf eine medizinische Basisversorgung.

L. B. Johnson wurde für seine Sozialreform und seinen „Krieg gegen die Armut“ im November 1964 mit einem Erdrutschsieg belohnt. Er holte 61,1 Prozent der abgegebenen Stimmen und damit deutlich mehr als John F. Kennedy.

Harris versucht dieses andere Amerika zu mobilisieren

Harris versucht dieses andere Amerika – das links, weiblich, vielfältig und in weiten Teilen eben arm ist – gegen Trump zu mobilisieren. Great Society gegen Big Business. Damit ist der Wahlkampf der Nebensächlichkeiten beendet – wo sich alles um Versprecher und Erinnerungslücken drehte – und ein Wahlkampf der politischen Alternativen beginnt.

 

Fazit: Die US-Demokratie hat auf der Zielgeraden dieses Wahlzyklus dann doch noch ihre Vitalität unter Beweis gestellt. Wahl bedeutet wieder Auswahl. Oder um es mit dem französischen Intellektuellen und USA-Kenner Alexis de Tocqueville zu sagen:

„Die Großartigkeit Amerikas besteht nicht darin, dass das Land erleuchteter ist als andere Nationen, sondern darin, dass es die Fähigkeit besitzt, seine Fehler zu korrigieren.“