Gastbeitrag von Gabor Steingart - Trump, Biden, von der Leyen - wie Machtpolitiker die freie Wirtschaft kapern
In der Wirtschaft ändern sich die Spielregeln stetig. Was gestern noch als Foul galt, führt heute zum Tor. Unternehmen müssen sich anpassen und neu überlegen, wie sie in einer sich ständig wandelnden Globalwirtschaft bestehen können.
Das gibt es nicht beim Boxen und nicht beim Fußball. Das ist weder bei Olympia noch in Wimbledon oder bei der Tour de France erlaubt.
Das gibt es exklusiv nur in der Wirtschaft: Die Spielregeln werden im laufenden Spiel neu geschrieben. Was eben als Foulspiel galt, führt plötzlich zum Tor.
Es lohnt sich daher, auf jeder Vorstandssitzung und auch am Kabinettstisch einen Tagesordnungspunkt anzusetzen unter der Überschrift „Was kommt? Was bleibt?“, der sich mit den veränderten Spielregeln der Globalisierung befasst. Denn der Erfahrungsschatz, auf den sich viele berufen, entpuppt sich in einer Welt dieser Dynamik oft als Sondermüll.
Im vollen Bewusstsein also dieser großen Flüchtigkeit hier die fünf Regeln, nach denen in der Globalwirtschaft derzeit gespielt wird.
# 1 Wir gegen die: Der Aufstieg des Friendshoring
Der traditionelle Freihandel, wo der komparative Vorteil und damit die betriebswirtschaftliche Rationalität über die Produktionsstandorte entschieden hatte, gilt nicht mehr. Die Regeln der neuzeitlichen Globalisierung werden von Machtpolitikern geschrieben.
Politische Ziele wie das Streben nach energetischer Autarkie oder militärischer Dominanz genießen Vorrang vor betriebswirtschaftlicher Rationalität. Deshalb zieht sich Chinas Notenbank nach und nach aus dem Dollar zurück und die Amerikaner streben eine technologische Entkopplung vom autokratischen Rivalen an.
Wer diese neuen Spielregeln des Friendshoring nicht beachtet, wird bestraft und geächtet. Wer sich aber innerhalb dieser politischen Sphäre zu bewegen versteht und bereit ist, ökonomische Kraft in politische Macht zu verwandeln, kann zu den Sternen fliegen. Die Quasi-Monopole des Silicon Valley und die Automobilfirmen in China wissen, was hier gemeint ist.
# 2 Size matters: Vorsprung durch Skalierung
In der Welt der Plattformökonomie ist vor allem die Skalierung von Produkten und Dienstleistungen zur entscheidenden Größe geworden. Beispiel Finanzwelt: Der nach nationalstaatlichen Kriterien durchregulierte europäische Finanzmarkt bringt keine Weltklassespieler mehr hervor. Unsere Banken sind sicher, aber global unbedeutend. Größe wird von den Politikern nicht mehr gewollt.
Beispiel Telekommunikation: In den USA teilen sich vier große Telkos, AT&T, Verizon, United States Cellular und T-Mobile US, den Markt, sodass die Infrastruktur jeweils durch rund hundert Millionen Amerikaner eine optimale Auslastung erfährt. Im Europa der Nationalstaaten ist ein Bruchteil dieser Skalierung möglich, wie Tim Höttges im neuen Pioneer-Podcast „Floating Ideas“ vorrechnet. Das Ergebnis: T-Mobile US ist mehr wert als alle europäischen Telekommunikationsfirmen zusammen.
# 3 Geplantes Wachstum: Der Staat spielt mit
Der Staat ist nicht mehr der neutrale Schiedsrichter, sondern der Mitspieler. Er will jetzt selbst Tore schießen. Inspiriert vom Aufstieg Chinas, wo eine ehrgeizige und ökonomisch versierte Elite den Aufstieg zur Weltmacht plant und exekutiert, hat auch Amerika seine Position zum Freihandel überdacht.
Von der Entwicklung des Internets durch Militärs über die staatlichen Pläne zur Erreichung von Energieautarkie bis zum Ansiedlungsprogramm namens „Inflation Reduction Act“ spielt der Staat jetzt die entscheidende Rolle. Er strukturiert das Spiel. Er positioniert die Spieler. Er entscheidet über die Verteilung der Ressourcen.
Die Slogans von Trump („Make America Great Again“) und Biden („Build Back Better“) bis zum „Green Deal“ von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erzählen von politischen Ambitionen, die in wirtschaftliche Pläne übersetzt wurden. Den Neoliberalismus gibt es noch als Theorie, aber nicht mehr als gelebte Praxis.
# 4 Energize yourself: Vom Streben nach Autarkie
Spätestens nach dem Ölpreisschock der 1970er-Jahre wuchs im Westen die Sehnsucht nach einer eigenständigen Energiewirtschaft. Und siehe da: Die Bedeutung der Öllieferungen aus politisch instabilen Regionen hat sich stark reduziert. Die OPEC-Mitgliedstaaten exportierten im Jahr 2023 zusammen fast 19,7 Millionen Barrel Öl pro Tag.
Mittlerweile haben die Europäer ihre Einkäufe bei den OECD-Staaten zwischen 2012 und 2023 trotz wachsender Volkswirtschaft um 20 Prozent reduziert. Deutschland investiert vor allem in den Ausbau erneuerbarer Energien, die bei der Stromerzeugung aktuell bereits fast 60 Prozent ausmachen. Die EU hat sich von russischen Gaslieferungen entkoppelt. Plus: Nirgends auf der Welt wird heute so viel Öl produziert wie in den USA.
# 5 KI ersetzt Bauchgefühl
Auch innerhalb der Firmen wird nach neuen Spielregeln gespielt. Denn: Die Technologie beansprucht mittlerweile nicht mehr nur eine unterstützende, sondern eine führende Rolle bei Problemlösungen. An die Stelle des Sammelns und Auswertens von Daten zur Entscheidungsfindung ist Künstliche Intelligenz getreten, die selbst Schlussfolgerungen zieht und diese auch exekutiert.
Die Marktanalysten von PwC schätzen das Potenzial von KI wie folgt ein:
„KI könnte im Jahr 2030 bis zu 15,7 Billionen Dollar zur Weltwirtschaft beitragen, mehr als die derzeitige Wirtschaftsleistung von China und Indien zusammen.“
Es gibt eine großzügige KI-Regulierung (USA) und eine durch Angst dominierte (Europa). Die eine entfesselt, die andere limitiert die Wachstumskräfte. Europa spielt einmal mehr mit Bleigewichten an den Füßen.
Fazit: Der Satz des ehemaligen FDP-Wirtschaftsministers Günter Rexrodt „Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt“ gilt nicht mehr. Das Ökonomische ist politisch und das Politische ist ökonomisch geworden.