Gastbeitrag von Gabor Steingart - Großmacht Russland wütet - jetzt hilft ein Gedanke von Helmut Schmidt
Russland bleibt trotz seiner wirtschaftlichen Schwäche ein politischer Riese. Dank mächtiger Verbündeter wie China kann Putin westlichen Sanktionen trotzen und seine militärischen Ambitionen verfolgen.
Putins Russland ist mit Sicherheit nicht die wichtigste Macht des 21. Jahrhunderts, aber die mit Abstand komplexeste. Es gibt dieses durch Lenins Revolution, Hitlers Weltkrieg und Stalins Sowjetdiktatur verwundete Land gleich viermal – und das in höchst unterschiedlichen Ausprägungen.
# 1 Russland: Der ökonomische Zwerg
Russland ist ein Bauernland, das unter Josef Stalin zwangsindustrialisiert wurde. Der rote Diktator sagte in seiner berühmten Rede vor den Wirtschaftsführern des Landes im Februar 1931, Russland müsse seinen Rückstand von 300 Jahren in zehn Jahren aufholen. Unter ihm stieg die Sowjetunion mit hohem Blutzoll zu einer industriellen Weltmacht auf, die den Westen mit Atomraketen erschreckte.
Doch der Wohlstand blieb aus. Die Planwirtschaft erstickte die Eigeninitiative und der Rückstand zum Westen vergrößerte sich wieder. Seit der Implosion der Sowjetunion ist die Wirtschaft vor allem vom Rohstoffhandel abhängig. Google-Gründer Sergey Brin nennt sein Geburtsland ein „Nigeria mit Schnee“, der israelische Historiker Yuval Noah Harari spricht von einer „Tankstelle mit Atomwaffen“.
# 2 Russland: Der politische Riese
Dank seiner mächtigen Verbündeten besitzt Putins Russland eine politische Kraft, die weit über die ökonomische Substanz hinausreicht. Die Achse China–Russland hat sich als durchsetzungsstark erwiesen. Nur so konnte Russland den Ukraine-Krieg fortsetzen und die Wirkung der westlichen Sanktionen mildern.
In der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) sind China und Russland zusammen mit dem Iran, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan, Tadschikistan, Indien und Pakistan politisch, ökonomisch und militärisch verbunden. Das Ziel ist die Eindämmung des Einflusses der Nato. Durch die Shanghaier Vertragsstaaten entstand ein internationales Ökosystem, das verhindert hat, dass Russland auf der internationalen Bühne zum Paria wurde.
# 3 Russland: Der nukleare Provokateur
Eine Präsentation der russischen Armee, die gestern von der Financial Times enthüllt wurde, erzählt von den nuklearen Ambitionen des heutigen Russland. Demnach wird die nukleare Erstschlagskapazität als die größte Stärke der eigenen Armee angesehen und entsprechend ausgebaut. Derzeit besitzt Russland nach Erkenntnissen des Friedensforschungsinstituts Sipri eine Nuklearmacht, die aus 5.580 Sprengköpfen besteht.
Russland trainiert seine Marine darauf – im Falle eines Konflikts mit der Nato –, Ziele tief in Europa mit nuklearen Raketen anzugreifen, wie aus den geheimen Dokumenten hervorgeht. Die Karten zeigen Ziele wie die Westküste Frankreichs, Nord- und Zentraldeutschland oder innerhalb des Vereinigten Königreichs.
Die zwischen 2008 und 2014 für Offiziere erstellte Präsentation enthält eine Zielliste für Raketen, die sowohl mit konventionellen Sprengköpfen als auch mit taktischen Nuklearwaffen bestückt werden können. Russische Offiziere heben die Vorteile hervor, Nuklearwaffen in der frühen Phase eines Konflikts einzusetzen.
Jüngste Übungen, die von Putin angeordnet wurden, um den Einsatz taktischer Nuklearwaffen zu proben, deuten darauf hin, dass die geleakten Dokumente weiterhin mit der aktuellen russischen Militärdoktrin übereinstimmen.
# 4 Russland: Die unfähige Streitmacht
Der nukleare Provokateur ist konventionell nicht in der Lage, die Ukraine einzunehmen und das eigene Grenzgebiet zu verteidigen. Seit acht Tagen gelingt es der russischen Armee nicht, die ukrainische Streitkraft, die in der Grenzregion Kursk das Territorium Russlands betreten hat und seither besetzt hält, wieder zu vertreiben.
Westlichen Angaben zufolge hält die Ukraine ein Territorium in der Größe von 1000 Quadratkilometern, also mehr als die Fläche von Berlin, besetzt. Der amtierende Gouverneur der Region Kursk, Alexej Smirnow, hat von geringeren Gebietsverlusten gesprochen. Bestätigt wurde von russischer Seite aber: 132.000 Menschen haben das Gebiet und die benachbarte Region Belgorod bereits verlassen; Russland arbeitet derzeit an der Evakuierung weiterer 60.000 Menschen.
Fazit: Die Beurteilung der russischen Fähigkeiten entzieht sich der Eindimensionalität und damit dem Schwarz-Weiß-Raster der politischen Rhetorik. Der Zusammenhang zwischen konventioneller und ökonomischer Schwäche bei gleichzeitiger nuklearer Stärke und der latenten Neigung zum Abenteurertum macht Putin derzeit unkalkulierbar. Er hält Trümpfe und er hält Nieten in der Hand.
Der Westen kann die Komplexität dieser Situation weder politisch noch militärisch auflösen. Er muss, wie einst Kanzler Helmut Schmidt in der Debatte um den Nato-Doppelbeschluss, das ernstgemeinte Verhandlungsangebot mit der nicht minder ernsthaften Aufrüstungsbereitschaft kombinieren. Helmut Schmidt hat am 12. Dezember 1979 im Deutschen Bundestag seinen Genossen (und damit auch der heutigen Fraktions-und Parteiführung) Folgendes ins Stammbuch geschrieben:
„Es gehört zu den gefährlichen Illusionen der Nachkriegszeit, dass man durch eigene Schwächung das Risiko eines Krieges mindern könne.“