Gastbeitrag von Gabor Steingart - Scholz wirkt, als hätte er einen Stock verschluckt - 5 Kanzler-Tipps aus den USA
Kamala Harris hat den US-Präsidentschaftswahlkampf auf den Kopf gestellt. Auch deutsche Politiker könnten von ihren Taktiken profitieren. Fünf wesentliche Lektionen, die SPD und CDU von ihr lernen müssen, um Wahlen zu gewinnen.
Der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen entscheidet sich an drei Dingen, weshalb heute, 83 Tage vor der Wahl, keine Prognose gewagt werden kann.
Erstens: Große Ereignisse können eine entscheidende Rolle spielen. Kriege, Terroranschläge wie 9/11, Umweltkatastrophen wie der Hurrikan Katrina und ein Börsencrash sind in der Lage, innerhalb von Minuten die Beleuchtung des Wahlkampfes zu verändern.
Zweitens: Fehltritte in der persönlichen Performance der Kandidaten sind unter dem extremen Druck und dem permanenten Schlafentzug einer monatelangen Kampagne jederzeit möglich. Im grellen Scheinwerferlicht wird aus der Mücke schnell ein Elefant.
Drittens: Auf die richtigen Kandidaten zur richtigen Zeit kommt es an. Das bedeutet, der jeweilige Kandidat muss in seine Zeit passen. Er ist nie nur der Vertreter seiner Parteifunktionäre. Will er gewinnen, muss er mit seiner Zeit zum Zeitgenossen verschmelzen.
Hannah Arendt hat in ihrem Werk „Über die Revolution“ (1963) das Entscheidende dazu gesagt:
„Macht ist das Vermögen, im Einvernehmen mit anderen zu handeln. Die Energie, die in der Gemeinschaft fließt, ist das, was den Führer trägt und ihn in die Lage versetzt, zu führen.“
Womit wir bei Kamala Harris wären. Sie hat dem Wort „Wahl“ in „Präsidentschaftswahl“ wieder einen Sinn gegeben. Sie hat die Beleuchtung und Tonalität dieser amerikanischen Auseinandersetzung verändert. Sie hat noch nicht gewonnen. Aber sie hat den öffentlichen Diskurs bereichert.
Hier sind die fünf Dinge, die SPD und CDU für den deutschen Bundestagswahlkampf von ihr und ihrer Kampagne lernen können.
#1 Sei opportunistisch
Kamala Harris ist in der Lage, ihre Positionen den politischen Notwendigkeiten und den Wünschen der Wählerschaft anzupassen. Sie klebt nicht am Parteiprogramm. Sie klebt noch nicht mal an dem, was sie gestern gesagt hat. Beim Fracking – ein No-Go für echte Ökologen – hat sie ihre Position von Ablehnung auf Zustimmung verändert. Sie will jetzt schließlich das Herz der Trump-Wähler gewinnen und nicht den alternativen Nobelpreis.
In Deutschland bahnt sich dagegen ein Wettkampf der Starrhälse an. Die Juristen Olaf Scholz und Friedrich Merz sind geborene Rechthaber, die die Meinung des Andersdenkenden immer nur als Provokation und nie als Bereicherung erleben. Politische Beweglichkeit halten sie nicht für eine Tugend, sondern für Verrat.
# 2 Sei optimistisch
Gegen den Untergangspropheten Donald Trump, der den Niedergang Amerikas in schaurig schönen Sätzen beschreiben kann, tritt eine austrainierte Optimistin an. Sie will die Fortschrittsgeschichte Amerikas fortschreiben, verspricht eine Reform der Waffengesetze und der Abtreibungsrechte. Sie bekämpft offensiv seinen Negativismus:
„We’re not going back.“
Im politischen System der Bundesrepublik ist der Optimismus seit jeher eine Sonderwirtschaftszone für Paradiesvögel. Die beiden mutmaßlichen Kontrahenten der Bundestagswahl ‘25 träumen von dem, was war. Der eine bewirbt sich als kleiner Bruder von Angela Merkel, der andere glaubt, er sei der Urenkel von Ludwig Erhard.
# 3 Sei überraschend
Ihre Kandidatur war nicht von langer Hand geplant und funktioniert gerade deshalb besonders gut. In einer Welt, in der Wahlkampfstrategen versuchen, die Gefühle der Wähler zu bewirtschaften, wirkt ein frisches personelles Angebot wie eine Stoßlüftung, nämlich belebend – zumal Harris mit Tim Walz auch noch einen jovialen Vizepräsidentschaftskandidaten präsentierte, den niemand auf dem Zettel hatte.
Die Magie der Überraschung kann sich in Deutschland derzeit nicht entfalten, weil beide Parteien das Erwartbare ins Schaufenster stellen. Ein Großteil der Energie des Duos Scholz/Merz wird dadurch absorbiert, dass sie Überraschungskandidaten wie Boris Pistorius, Markus Söder oder Hendrik Wüst verhindern wollen. Und: Beide Spitzenmänner haben keine Spitzenfrauen in ihrer Nähe. Unsere Oldies glauben, sie seien Goldies.
# 4 Sei komplementär
Sie ist in jeder Hinsicht das Kontrastprogramm zu Donald Trump. Mann gegen Frau. Weiß gegen schwarz. Straftäter gegen Staatsanwältin. Der Unternehmer aus der Immobilienwirtschaft gegen die Juristin, die für Frauenrechte kämpft und den Sozialstaat ausbauen will. Damit haben die Wähler der Vereinigten Staaten wirklich eine Alternative.
In Deutschland lebt eine Partei, die AfD nämlich, genau davon, dass die großen Parteien nicht komplementär, sondern konvergent zueinander auftreten. Diese Repräsentationslücke, um mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Prof. Hans-Jürgen Papier zu sprechen, ist ihr Feuchtbiotop.
# 5 Sei Mensch!
Die neue Kandidatin der Demokraten tritt nicht zuerst als Vizepräsidentin und Repräsentantin ihrer Partei vor die Wähler, sondern als Mensch. Sie lacht viel. Sie tanzt Hip-Hop im Garten des Weißen Hauses. Sie hat mit dem Lied „Freedom“ von Beyoncé eine eigene Hymne mitgebracht.
Dagegen wirken beide deutschen Kandidaten, als hätten sie einen Stock verschluckt. Scholz und Merz können alles, nur nicht locker. Die Hymne von Friedrich Merz könnte von Peter Cornelius stammen: „Der Kaffee ist fertig“. Der im Dauerumfragetief hängende Olaf Scholz dürfte auf Rudi Carrell setzen: „Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer“.
Fazit: Deutschland ist nicht Amerika, hört man CDU und SPD nun sagen. Dabei sind die Prinzipien charismatischer Führung universell. Max Weber sagt: „Ein wahrhaft charismatischer Führer verbindet sich auf tiefster Ebene mit seinem Volk und wird zu einem Kanal, durch den die Energie des Volkes fließt.“ Kamala Harris hat diese unterirdischen Energiedepots erkennbar angezapft. Scholz und Merz suchen noch nach der Quelle.