Gastbeitrag von Gabor Steingart - Trump droht, sie lockt: Harris' Rede war nur auf den ersten Blick effektiv
Kamala Harris fesselt zum Abschluss des Parteitags der Demokraten ihre Anhänger mit einer emotionalen Rede und schießt scharf gegen Donald Trump. Es war ein guter und effektiver Auftritt. Allerdings nur auf den ersten Blick.
Die Frage wenige Stunden nach der Parteitagsrede in Chicago lautet. War das eine gute, eine effektive Rede von Kamala Harris? Die kurze Antwort lautet: Ja.
Denn sie hat nach den vielen Aussetzern ihres Noch-Chefs Joe Biden die demokratische Basis revitalisiert. Das war eine dringend notwendige Injektion Enthusiasmus. Sie braucht in den kommenden Wochen zehntausende von Fürsprechern in den Betrieben, an den Universitäten und beim Elternabend. Die hat sie heute Nacht akquiriert.
Sie sprach über ihre Werte:
„Meine Mutter hat mir beigebracht, mich niemals über Ungerechtigkeit zu beschweren, sondern etwas dagegen zu tun! “
Sie machte das glaubwürdige Angebot einer menschlichen, einer volksnahen Präsidentschaft:
„Ihr könnt immer darauf vertrauen, dass ich das Land über Partei und Eigennutz stelle. Kamala Harris für die Menschen. Mein ganzes Leben lang hatte ich nur einen Kunden – die Menschen. “
Sie knöpfte sich Trump vor: „Mit dieser Wahl hat unsere Nation eine wertvolle Gelegenheit, über die Bitterkeit, den Zynismus und die spalterischen Kämpfe der Vergangenheit hinauszuwachsen – eine Chance, einen neuen Weg nach vorne zu finden.“
„Trump ist in vielerlei Hinsicht ein unseriöser Mann“
Sie beschrieb einmal mehr den unseriösen, den oft unkalkulierbaren Charakter ihres Rivalen als Risiko für die westliche Welt: „In vielerlei Hinsicht ist Donald Trump ein unseriöser Mann. Die Konsequenzen, die es bedeutet, wenn Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht, sind äußerst seriös.“
Sie bezichtigte ihn in großer Klarheit der Selbstverliebtheit: „Er würde die immense Macht des Präsidentenamts der Vereinigten Staaten nicht nutzen, um euer Leben zu verbessern oder unsere nationale Sicherheit zu stärken, sondern um den einzigen Kunden zu bedienen, den er je hatte: sich selbst.“
Ihr Slogan war zugleich ihr zentrales Versprechen: „We are not going back.“
Harris ökonomische Agenda bleibt unscharf
Die etwas ausführlichere Antwort auf die Frage nach der Effektivität ihrer Rede aber lautet: Nein.
Denn sie hat zwar die Überzeugten überzeugt, aber den Kritiker der neuzeitlichen amerikanischen Entwicklung, die den relativen Abstieg gegenüber China als schmerzhaften Prozess erleben, die der Migrationsdebatte eine strengere, man kann auch sagen autoritäre Richtung geben wollen und die den Sozialstaat nicht expandieren, sondern minimieren wollen, kein Angebot unterbreitet.
Ihre ökonomische Agenda blieb unscharf. Eine Entschlossenheit, den relativen Abstieg der Weltmacht Amerika zu verhindern oder wenigstens abzubremsen, wurde nicht erkennbar.
Die anderen Mächtigen dieser Welt – die Männer in China, in Russland und die Mullahs in Nahost – brauchen sich vor ihr nicht fürchten. Sie hatte für die Welt keine kraftvolle Botschaft.
Harris ist ohne Zweifel der bessere Mensch, aber auch der effektivere Führer?
Ihr Angebot ist vor allem eine Alternative für Amerika: Frau gegen Mann, schwarz gegen weiß, Strafverteidiger gegen Straftäter, Versöhner gegen Polarisierer, eine erklärte Sozialpolitikerin gegen einen New Yorker Immobilientycoon, Frauenrechtlerin gegen bekennenden Macho, eine Frau von hoher akademischer Ausbildung gegen einen Selfmademan, ein Mensch mit fast schon britischer Höflichkeit gegen einen Raufbold, der es liebt, den gesellschaftlichen Common zu verletzten, Klischees zu bedienen und niedere Instinkte anzusprechen.
Der Unterschied könnte deutlicher nicht sein: Er adressiert Ängste. Sie mobilisiert Hoffnungen. Er droht, sie lockt. Er ist das harte, sie das freundliche Gesicht Amerikas. Er bricht im Zweifel die Regeln, die sie erhalten will.
Damit liefert sie die neuzeitliche Interpretation einer amerikanischen Geschichte, deren frühere Kapitel JFK, Lyndon B. Johnson, die Clintons und die Obamas geschrieben haben. Sie ist die Frau eines regelbasierten Weiter-So.
Fazit: Sie ist ohne Zweifel der bessere Mensch. Aber ist sie auch der effektivere Führer? Diese Frage werden 244 Millionen wahlberechtigte Amerikaner für sich zu entscheiden haben. Darin besteht für sie die Qual dieser Wahl.