Gastbeitrag von Gabor Steingart - Wagenknecht, Selenskyj und Harris sind sich ähnlicher als Sie denken
Unterschiedlicher könnten Wagenknecht, Selenskyj und Harris kaum sein. Doch sie haben eine überraschende Gemeinsamkeit: Die drei Politiker wagen die Erneuerung.
Die Welt der Gegenwart wird von Kriegen, Katastrophen und schlechter Laune zusammengehalten – aber eben nicht nur. Inmitten einer Welt ohne Ordnung sind wir Zeitzeugen wundersamer Aufstiege und treffen auf Menschen, die gegen alle Erwartungen ihren Weg gehen, der ein Weg ins Offene ist.
1. Kamala Harris: Auferstanden aus Ruinen
Die Hinterlassenschaft des Joe Biden ist für sie keine günstige: Erst im Windschatten des greisen Mannes, der mit seinen fahrigen Auftritten die Zustimmungswerte der Demokraten zerbombt hatte, konnte Donald Trump seine Wiederwahlkampagne starten.
Sie war die Unsichtbare, die dem mentalen Verfall ihres Chefs und der Wiederauferstehung von Trump zuschauen musste. Gegenwehr verboten: Strategische Geduld war das Gebot der Stunde.
Zumal ihre Zeit als Vizepräsidentin keine Ruhmreiche war. Sie trat entweder gar nicht oder negativ in Erscheinung, wie im Zuge der anschwellenden Migrationsbewegung aus Lateinamerika. Im Sommer vergangenen Jahres hatte NBC News bei einer Umfrage 49 Prozent Ablehnung für Harris gemessen, der schlechteste Wert eines Vizepräsidenten seit Beginn der Erhebung 1989.
Harris hatte keine Chance – und nutzt diese jetzt
„Biden sollte Kamala Harris fallen lassen“, forderte das New York Magazine im September 2023. „Die Demokraten haben die Präsidentin im Wartestand nicht in ihr Herz geschlossen“, legte wenig später die New York Times nach. Die mediale Meute gab Kamala Harris keine Chance. Sie war nicht die Auserwählte. Sie war die Gehetzte.
Nach dem plötzlichen Rücktritt von Joe Biden am 21. Juli war ihr Auftritt noch immer nicht gekommen. Sie musste für diesen Moment hart arbeiten. Das Gehirn der Partei musste überzeugt, ihre Seele massiert werden. Zehn Stunden hat Harris mit Parteifunktionären, Abgeordneten und wichtigen Spendern telefoniert. Innerhalb von 48 Stunden sammelte sie 100 Millionen Dollar an neuen Spenden für ihre Kampagne ein, was einer lautlosen Nominierung gleichkam.
Inzwischen hat sich Kamala Harris in den Umfragen einen Vorsprung gegenüber Donald Trump erarbeitet, auch wenn dieser sich noch nicht in Wahlmännerstimmen übersetzt. Aber ihre Parteibasis wirkt revitalisiert, die Kundgebungen von ihr sind ähnlich stark besucht wie einst die von Obama. Sie hatte keine Chance – und nutzt diese jetzt.
2. Wolodymyr Selenskyj: Kriegsherr wider Willen
„Gegen eine Atommacht kann man keinen Krieg gewinnen“, sagte einst Gregor Gysi und gab damit den Freiheitskampf der von Putin überfallenen Ukraine verloren. Innerhalb weniger Monate sei die Ukraine überrannt und besetzt, schrieb die Mehrzahl der deutschen Kommentatoren im Frühjahr. Henry Kissinger beteuerte im Mai 2022 in Davos:
„Die Verhandlungen müssen in den nächsten zwei Monaten beginnen.“
Innerhalb der SPD-Fraktion war es namentlich deren Chef Rolf Mützenich, der einen schnellen Frieden mit Putin und damit Gebietsabtretungen der Ukraine favorisierte. Sein Kanzler, der zunächst nur 5.000 Helme bewilligte, war unwillig, sein politisches Schicksal mit dem von Selenskyj zu verknüpfen.
Kämpfer gegen den Negativismus
Doch der Ukrainer hielt von Anfang an dagegen. Er motivierte und inspirierte seine schockierte Nation. Wenige Wochen nach dem Einmarsch der Russen, am 8. März 2022, zitierte er vor dem britischen Parlament den Hitler-Gegenspieler und großen Kriegsherrn des Zweiten Weltkrieges, Winston Churchill:
„We will not give up and we will not lose. We will fight until the end at sea, in the air. We will continue fighting for our land, whatever the cost.“
Und so kämpfte er zunächst in Washington, in New York, in Paris, Rom und Berlin gegen den grassierenden Negativismus und für die militärische Unterstützung seines Landes. Was mit 5.000 Helmen begann, ging schließlich mit Panzern und Raketen weiter. Bis heute hat die Ukraine fast 200 Milliarden Euro Finanzhilfe aus Europa und den USA zur Kriegsführung bekommen.
Derart ermuntert, holte Selenskyj am 6. August zum Gegenschlag auf Russland aus. Ukrainische Truppen stießen auf russisches Gebiet vor – mit Erfolg. In der Region Kursk wurden mittlerweile mehr Geländegewinne erzielt, als Russland sie 2024 im Donbass vermelden konnte.
3. Sahra Wagenknecht: Die politische Start-Upperin
Die Wagenknecht-Partei dürfte es eigentlich gar nicht geben. Alle linken Medien (taz: „Luftnummer“, Zeit: „Wagenknechts Einheitspartei“) und ihre einstigen Parteifreunde in der Linkspartei hatten gegen sie gewettet. Gregor Gysi:
„Sahra kann vieles, aber organisieren gehört nicht dazu.“
Der zu diesem Zeitpunkt innerhalb der Linkspartei bereits marginalisierten Politikerin traute niemand den entbehrungsreichen Weg einer Parteineugründung zu. Zumal die Gefahr, dass die Partei unter der Fünf-Prozent-Hürde bleibt und damit in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, eine reale war.
Doch dann gab sie sich einen Ruck. Am 8. Januar 2024 wurde die Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ gegründet. Mit den Kandidaten Fabio De Masi und Thomas Geisel und den Fürsprechern Klaus von Dohnanyi und Oskar Lafontaine präsentierte sie eine Riege vorzeigbarer Mitstreiter, die ihrem Projekt das Egomanische nahmen.
Gewagt und gewonnen
Heute steht sie organisatorisch und in der Wählergunst solide da. In Umfragen zu den anstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen liegt ihr Bündnis auf dem dritten Platz. Bundesweit kommt sie auf sieben Prozent und schafft es damit vor die FDP.
Die politische Unternehmerin, die ihre Wähler vor allem links der Mitte einsammelt, schaffte den Einzug ins Europaparlament und dürfte mit ihrer Truppe im Osten bald schon auf der Regierungsbank sitzen. Sie hat gewagt und sie hat gewonnen.
Ein Sieg der Erneuerung ist möglich
Fazit: Den Kräften der Zerstörung treten die auch in unserer Zeit höchst vitale Kräfte der Erneuerung entgegen. Ihr Sieg ist nicht garantiert, aber möglich. Oder um es mit dem jungen, dem abenteuerlustigen Goethe zu sagen:
„Ich bin voll entschlossen, zu entdecken, zu streiten und mit voller Kraft in die Luft zu sprengen.“