Gastbeitrag von Gabor Steingart - Die Welt driftet weg von den USA – jetzt beginnt die Zeit der Alpträume

US-Präsident Joe Biden<span class="copyright">Leon Neal/PA Wire/dpa</span>
US-Präsident Joe BidenLeon Neal/PA Wire/dpa

Das amerikanische Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. Immer mehr Staaten wenden sich von den USA und Präsident Joe Biden ab. Ein neues Zeitalter lässt aber noch auf sich warten – das schafft Chancen für Monster.

Der Titel „Weltmacht“ ist einer, der von der Geschichte nur auf Zeit verliehen wird. Das Römische Reich verschwand nach dem Sturm der Vandalen im Nebel der Geschichte. Auch das British Empire zerfiel, das zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung 25 Prozent der Erdoberfläche besetzt hielt.

Die kommunistische Weltrevolution des Wladimir Lenin hatte es mit ihren Satellitenstaaten bis nach Angola, Kuba und Ostdeutschland geschafft, um dann mit der Implosion der Sowjetunion zu enden. Hitlers Welteroberungsfantasie – „Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt“ – blieb in Stalingrad stecken.

USA: Lebenswichtigste Nation statt Glück der Isolation

Die USA stiegen nach dem Scheitern von Hitler und Lenin zur dominanten Weltmacht des späten 20. Jahrhunderts auf. In seinem Essay „The American Century“ hatte „Time“-Herausgeber Henry Luce bereits 1941 seine Landsleute aufgefordert, die Weltführerschaft anzusteuern:

„Jetzt ist unsere Zeit gekommen, das Kraftzentrum zu sein, von dem aus sich die Ideale in der ganzen Welt verbreiten.“

Das amerikanische Volk sollte den Traum vom Glück in der Isolation aufgeben und „die Rolle als mächtigste und lebenswichtigste Nation der Welt von ganzem Herzen annehmen“.

Seit Trump werden die Weltmacht-Ambitionen zurückgefahren

Tempi passati: Spätestens mit der „Amerika-Zuerst-Bewegung“, die von Donald Trump ausging und mittlerweile auch das demokratische Lager infiziert hat, wurde die Ambition wieder heruntergefahren. Die einst größte Exportmacht der Welt ist zum größten Importeur und größten Kreditnehmer der Welt abgestiegen. Außenpolitische Fehler, vom Vietnamkrieg bis zum Irakfeldzug, kamen hinzu.

 

Der Einfluss Washingtons schwindet. Loyalitäten werden gekündigt. Das amerikanische Jahrhundert – das 1990 mit dem Ende der Bipolarität seine größte Ausdehnung erreicht hatte – neigt sich schon wieder dem Ende zu. Die Welt driftet – und sie driftet weg von den USA.

Israel: Die Lossagung

Mit großer Enttäuschung registriert der amerikanische Präsident Joe Biden, dass die Israelis militärisch neuerdings auf eigene Rechnung bombardieren. Ohne vorherige Abstimmung mit Washington wurde der Libanon angegriffen und der Hisbollah-Chef Nasrallah getötet.

Benjamin Netanjahu will nicht Frieden, sondern Rache. Der Nahe Osten brennt, und nicht mal mehr der amerikanische Löschzug, sprich die Pendeldiplomatie des Präsidenten, ist noch gefragt.

Indien: Führer der Blockfreien

Erst vor einer Woche reiste der indische Premier Narendra Modi in die USA, um seine Distanz zum Weißen Haus zu demonstrieren. Das Land verarbeitet russisches Öl, das durch die westlichen Sanktionen frei geworden ist, und kauft im großen Stil russische Waffen. Am Decoupling von China nimmt Indien demonstrativ nicht teil.

Indien will als Führer der blockfreien Staaten wahrgenommen werden und nicht als Vasall des Westens. Indiens diplomatisches Mantra ist die „strategische Autonomie“.

China: Vom Partner zum Rivalen

Die Nähe zwischen China und den USA, die mit der China-Reise des Duos Nixon/Kissinger eröffnet wurde, ist der Feindseligkeit gewichen. China will Amerika technologisch übertrumpfen. Amerika will China ökonomisch entkoppeln.

China löst seine Dollar-Reserven auf, womit Amerika seinen größten Kreditgeber verliert. Amerika stellt den Verkauf sensibler Technologie – zum Beispiel leistungsstarker Nvidia-Chips – unter Strafe. China überschwemmt den Westen mit Billig-Autos. Rund um Taiwan hat ein Wettdrohen begonnen, das jederzeit in einen heißen Konflikt umschlagen kann.

Türkei: Neue Nähe zu Putin

Trotz Nato-Mitgliedschaft hat sich die Türkei unter Präsident Erdoğan von den USA immer weiter distanziert. Spannungen entstanden vor allem durch den Kauf des russischen S-400-Raketenabwehrsystems und die Haltung im Syrienkonflikt, insbesondere gegenüber den kurdischen Milizen, die von den USA unterstützt werden, während die Türkei sie als Bedrohung ansieht. Auch nutzt die Türkei die westlichen Sanktionen, um billige Rohstoffe von Putin zu kaufen.

Saudi-Arabien: Ende der Vasallentreue

Die Vasallentreue des Königshauses von Saudi-Arabien ist der kalkulierten Distanz gewichen. Der Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi und die Weigerung Saudi-Arabiens, sich bei der Ölproduktion nach den Wünschen der USA zu richten, markieren den Bruch.

Dem Drängen der USA nach höheren Förderquoten zwecks Absenkung des Ölpreises kam Saudi-Arabien nicht nach. Stattdessen hat sich das Land Russen und Chinesen zugewandt, vor allem im Rahmen seiner Energiepolitik.

Europa: Vorrang für Souveränität

Die europäische „Zeitenwende“ hat begonnen; sie soll ein Ende der Abhängigkeit Europas von den USA herbeiführen – wirtschaftlich und innerhalb der Nato. „Wir müssen uns selbst verteidigen können“, sagte Ursula von der Leyen zum Anfang des Jahres. Noch beträgt der Anteil der USA an den gesamten Verteidigungsausgaben der Nato mit 968 Milliarden Dollar rund 66 Prozent.

 

Fazit: Das amerikanische Zeitalter klingt aus, ohne dass ein neues Zeitalter begonnen hätte. Das ist eine Zeit, in der die Zuversicht es schwer hat, derweil die Alpträume gedeihen. Man kann nur hoffen, dass der italienische Philosoph Antonio Gramsci Unrecht hat:

„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“