Gastbeitrag von Gabor Steingart - Die Wirtschaft schrumpft und unsere Politiker fliehen in die Sozialstaatsillusion

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) besucht Energie Hub Moorburg<span class="copyright">Marcus Brandt/dpa</span>
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) besucht Energie Hub MoorburgMarcus Brandt/dpa

Die deutsche Wirtschaft wirkt wie Oskar Matzerath in der „Blechtrommel“: Sie stagniert in der Krise. Wirtschaftsexperten prognostizieren für die nächsten zehn Jahre nur noch ein Potenzialwachstum von 0,4 Prozent. Und die Regierung? Sie bleibt untätig.

Die deutsche Volkswirtschaft macht es wie Oskar Matzerath in der „Blechtrommel“ von Günter Grass: Sie hat in einer Welt der Widrigkeiten das Wachsen eingestellt.

Der IWF prognostiziert für die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr ein Wachstum von nur 0,2 Prozent. Der ifo-Geschäftsklimaindex ist gestern erneut abgesackt. Selbst das Potenzialwachstum (jene Zahl, die über die Möglichkeiten des Wachstums Auskunft gibt, wenn alles optimal läuft) liegt nach Auskunft der Wirtschaftsweisen nur noch bei 0,4 Prozent pro Jahr für die kommenden zehn Jahre. Das wäre ein Drittel des durchschnittlichen Potenzialwachstums des vorangegangenen Jahrzehnts.

 

So schlägt die Wirtschaft wie der kleine Oskar wütend die Trommel. Sie ist laut. Sie ist deutlich. Ab und zu meldet sich ein tapferer Wirtschaftsführer wie Tim Höttges von der Telekom zu Wort, auf dass im Kanzleramt die Sektgläser zersplittern:

„Wir deindustrialisieren gerade Deutschland.“

Deutsche Wirtschaft: Regierung hat sich an Stagnation gewöhnt

Aber die Regierung hat sich an die Stagnation des Produktionsapparates gewöhnt. Oskar wird bemitleidet, aber nicht therapiert. Man lässt ihn schreien und auf seiner Blechtrommel trommeln. Die Stagnation wird als seine Störung gelesen und nicht als ihre Handlungsaufforderung.

Wohlmeinende nennen ihn „das Oskarchen“, aber bald sind da keine Wohlmeinenden mehr. Oskar spürt, dass seine Mutter ihn zu hassen beginnt:

„Eine Mutter merkt alles, fühlt alles, eine Mutter verzeiht alles. Muttertagssprüche sind das! Einen Gnom hat sie in mir gesehen.“

Die deutschen Politiker ähneln immer mehr Oskars Mutter, die sich keine Mühe mehr gibt, ihr störrisches Kind zu verstehen. Die Politiker versuchen, der Stagnation der Volkswirtschaft durch eine Flucht in die Sozialstaatsillusion zu entkommen. Planmäßig überfordern sie mit ihren Versprechen an das Wahlvolk das Sozialprodukt des Landes.

An Geld mangelt es nicht

An Geld mangelt es ihnen zunächst nicht. Dafür sorgen die hohen Steuersätze der Bürger. Die Steuereinnahmen sind von 644 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 916 Milliarden im Jahr 2023 um 40 Prozent gestiegen.

Der Bundeshaushalt allerdings wächst noch schneller, weshalb am Kapitalmarkt Geld dazugekauft werden muss. Von knapp 300 Milliarden im Jahr 2014 auf rund 480 Milliarden Euro in diesem Jahr ist das Haushaltsbudget um 60 Prozent gestiegen.

Kein Wunder: Die Zinsbelastung in 2024 fällt mit 37 Milliarden höher aus als der Etat der Bildungsministerin. Doch das schreckt niemanden mehr. Die Maßlosigkeit muss weitergehen, weshalb das Steuergeld der Bürger nicht gespart, sondern am Weltkapitalmarkt gehebelt wird. Was durch echtes Wirtschaftswachstum nicht mehr erbracht wird, muss durch Financial Engineering künstlich erzeugt werden.

Auch dieses Geld wird nicht verstärkt in Bildung, Forschung, Digitalisierung oder die Infrastruktur der Bahn investiert, sondern in den weiteren Aufwuchs des Sozialstaates: Mütterrente I und II, Elterngeld, Baukindergeld, Starke-Familien-Gesetz, Grundrente, Bürgergeld. Von 2013 bis 2024 ist das Budget der Familienministerin um 97 Prozent, das des Arbeits- und Sozialministers um 40 Prozent gestiegen.

Ausgaben für Renten dominieren das gesamte staatliche Finanzgebaren

Die Ausgaben für die Renten dominieren mittlerweile das gesamte staatliche Finanzgebaren. Seit dem Jahr 2012 wuchsen die Ausgaben für die Rente um 47 Prozent auf nunmehr rund 380 Milliarden im Jahr 2023. Der gesamte Bundeshaushalt – Bundeswehr inklusive – muss abzüglich der Rentenzuschüsse mit weniger Geld auskommen. Auch deshalb wächst Deutschland nicht mehr, weil die Vergangenheit die Zukunft frisst.

Die Geschichte der Bundesrepublik – die in ihren ersten Lebensjahren mit zweistelligen Wachstumsraten gestartet war – wurde zur Geschichte der Wachstumsverlangsamung, die nun in der Phase der Stagnation gelandet ist. Seit Gerhard Schröder für seine Reformagenda 2010 mit der Abwahl bestraft wurde, hat sich keiner mehr getraut, die Wachstumskräfte der Wirtschaft zu stimulieren.

Stattdessen verfiel die Regierung – diese und schon die vorherige – dem Sozialstaatspopulismus. Sie hat für Oskar jetzt keine Zeit, kein Geld und auch keine Zuneigung mehr. Ihre Beziehung zu dem unwilligen Kinde ist gestört. So perpetuiert die Wachstumsschwäche mit dem absehbaren Ergebnis: Deutschland wird – wenn sich dieser Prozess fortsetzt – zum ökonomischen Gnom.

Kein schöner Ausblick für private Investoren

Für private Investoren ist das kein schöner Ausblick. Sie halten die Weltkarte in der Hand und verlassen das Land. Sie pumpen ihr Geld lieber dahin, wo das Wachstum zu Hause ist – also nach Amerika und nach Asien.

„Wir brauchen einen Vertrauensschub bei Verbrauchern und Investoren – dafür ist ein Politikwechsel erforderlich“, rief Prof. Clemens Fuest, als er den ifo-Konjunkturindex gestern vorstellte. Die Wirtschaft stecke in der Stagnation – „und es wird immer schlimmer“.

Doch schon Oskar Matzerath war für die alarmistische Ansprache der Erwachsenen nicht mehr zu erreichen. Die Wirklichkeit hatte ihn in den Wahnsinn getrieben, wo er von einem irren Kunstprofessor entdeckt und in sein Atelier entführt wurde.

 

Dieser Professor („Kunst ist Anklage“) stellte ihn vor seinen Schülern aufs Podest und damit bloß – auf dass die hinter ihren Staffeleien postierten Nachwuchsmaler den kleinen Oskar in seiner ganzen Absonderlichkeit begaffen und begreifen sollten:

„Zeichnet ihn nicht, den Krüppel, schlachtet ihn, kreuzigt ihn, nagelt ihn mit Kohle aufs Papier!“

Möge Deutschland dieser Schlussakkord einer öffentlichen Verachtung erspart bleiben. Von der Bewunderung zum Mitleid haben wir es schon gebracht.