Gastbeitrag von Heinrich Strößenreuther - Jetzt kommt das Verkehrsgesetz, das den Menschen mit dem Auto gleichstellt
Die Politik hat einen Kompromiss beschlossen, der besonders Tempo-30-Zonen, Fahrradwege und die Pünktlichkeit der Deutschen Bahn fördern dürfte. Der langjährige Verkehrsexperte Heinrich Strößenreuther (CDU) erklärt, was das für die Mobilität bedeuten könnte.
Angenommen, Sie wären oberster Schiedsrichter in Deutschland für gesellschaftliche Interessenskonflikte: Wie würden Sie in diesem Fall urteilen? Vorrang für die Stadtbewohner und deren Lebensqualität oder möglichst zügige Fahrt für den Durchgangsverkehr? Noch einfacher formuliert: Vorrang für die Menschen, die vor Ort leben, oder für den Verkehr, der dort durchfährt?
Ein Kompromiss ist, so sagte mir ein guter Freund, wenn am Schluss alle ein bisschen unzufrieden sind. Wenn etwas in den Vermittlungsausschuss reingeht, kommt meistens ein Kompromiss raus, der dann auch von Bundestag und Bundesrat beschlossen wird. Das soll demnächst in Sachen Tempo 30 und Bahn-Politik passieren.
Schluss mit dem „Pünktlichkeitsverbot“
Mit diesem Kompromiss wird ein wichtiges “Pünktlichkeitsverbot” für die Bahn aufgehoben. Bislang durfte der Bund weder in moderne digitale Technik in den Zügen investieren noch unser Steuerzahlergeld in die Unterhaltung und Instandhaltung der Gleise und Weichen stecken.
Geschieht ersteres, passen mehr Züge pro Stunde aufs Gleis, weil sie digital miteinander kommunizieren können und nicht mehr auf die veralteten Signale mit kilometerlangen Abständen angewiesen sind. Wir Steuerzahler kriegen so mehr Kapazität fürs Geld. Also mehr Angebote, mehr gute Gründe zum Umstieg: gut fürs Klima.
Mehr Bahn fürs Geld
Geschieht letzteres, können alte Weichen, Signale und Gleise schneller, gezielter und umfangreicher saniert und instandgehalten werden. Im Zug merken wir das an weniger Verspätung, weniger plötzlichen Halten oder weniger Durchsagen wie „wegen einer Signalstörung“.
Auch hier können wir Steuerzahler uns freuen, dass mit unseren Mitteln das Pünktlichkeitsverbot aufgehoben wird und Bahn, Bund und Länder nun in die zügige Generalsanierung investieren können. Bislang wartete die Bahn lieber darauf, dass etwas kaputt ging, da erst dann Steuerzahlergeld floss.
Das wird nun anders, sodass alles zügiger und vorausschauender instandgehalten wird. Der Instandhaltungsstau kann nun abgebaut werden, die Pünktlichkeitsstatistik könnte sich verbessern, wir können wieder besten Gewissens Freunden, Nachbarn oder Kolleginnen die Bahn empfehlen. Steigen mehr um, hilft es dem Klima. Und wenn jetzt auch noch der Weg frei gemacht wird für die Verschönerung der Bahnhofsgebäude, wird es eine wahre Freude.
Was jetzt noch fehlt, ist der zwei- bis vierfach größere Geldbeutel pro Einwohner und Jahr für die Bahn. Die Bahnländer Schweiz und Österreich zeigen, wie es geht: gut gewartete Anlagen, wenig Verspätungen, moderne Bahnhofsgebäude samt ausreichenden Bike+Ride-Anlagen und Bus-/Tram-Verknüpfung. Aber das war ja noch nicht Thema im Vermittlungsausschuss.
Anträge für Tempolimits sind bislang ein Minenfeld
Der zweite Kompromissbereich betrifft die kommunale Verkehrspolitik. Tempo 30 vor Kindergärten und Schulen müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit für ein modernes Land sein. Um unseren Jüngsten ihre Freiheit einer selbstbestimmten Mobilität zu gewährleisten, wie wir Älteren sie noch oft gewohnt sind, müssten insbesondere Schulwege sowie die Straßen und Plätze vor Schulen, Kindergärten und Sporteinrichtungen besser geschützt werden.
Bislang mussten die völlig überlasteten Verkehrsplanerinnen und -planer der Kommunen dazu umfangreiche Gutachten erstellen und nachweisen, dass auf keinen Fall Staus entstehen können und dass die Leichtigkeit des Autoverkehrs auf keinen Fall betroffen wäre.
Schon kleine Fehler führten zu Gerichtsverfahren und oft zu Beschlüssen gegen das Verkehrsinteresse einer großen, vor allem ungeschützten Mehrheit des Verkehrswesens. Ein Tempolimit-Verbot beinhaltete quasi das alte Straßenverkehrsgesetz.
Bürokratie und Überregulierung abbauen – für unsere Kommunen
Das soll jetzt aufgehoben werden, indem man neben die Leichtigkeit des Verkehrs gleichberechtigt Klima-, Umwelt- und Gesundheitsziele stellt. Die Abwägung bei der Optimierung der Verkehrsräume für Jung und Alt, für Rad und Auto muss nun gleichrangig erfolgen.
Die Länder können eigene Rechtsverordnungen erlassen, um diese Prüfungen zu standardisieren, zu digitalisieren und zu beschleunigen. Bürokratische Hürden verschwinden, die überlasteten Planer können mehr und schneller Tempo-30-Zonen oder Radwege anlegen.
Das ist gut fürs Klima, denn wann immer gute und sichere Radwege entstehen, können die Zwangsverkehre umsteigen. Mütter lassen ihre Schulkinder radeln, ängstliche AutofahrER (ja, auch die gibt’s viel häufiger als man denkt, wie ich in diversen Gesprächen immer wieder zu hören bekomme) trauen sich aufs Rad, Staus und Parkplatzsorgen schrumpfen. Ein Win-Win für alle Beteiligten.
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Mehrheit an CDU-Bürgermeistern für diese Reform
Es ist das Verdienst mehrere Verkehrsorganisationen, engagierter Politikerinnen und über 1000 Bürgermeistern, (dabei auch eine Mehrheit von der CDU), die sich für diese neue Freiheitsregeln öffentlich einsetzten.
Ausgelöst haben wir die Diskussion 2016 in Berlin, als wir als Volksentscheid Fahrrad Deutschlands erstes Mobilitätsgesetz ausformulierten und immer wieder an Bundesregeln scheiterten. Die daraus entstandene Radentscheidsbewegung mit über 50 Bürgerentscheiden hat das immer wieder thematisiert.
Mobilität ist mehr als Auto
Weitere dieser Freiheitsregeln braucht das Land, denn Mobilität ist mehr als Auto. In den Städten sitzt nur noch eine Minderheit hinterm Lenkrad, und selbst die schrumpft: Oft werden mehr als 70 Prozent der Wege zu Fuß, mit dem Rad oder mit Bus und Bahn zurückgelegt.
Gegenüber den Jahren vor Corona ist der Autoverkehr um zehn bis zwanzig Prozent geschrumpft. Mehr und mehr Menschen fahren nicht und bleiben lieber zu Hause - zufälligerweise besonders rund ums Wochenende. Gleichzeitig stiegen mehr und mehr von uns um und reduzierten so Stau- und Parkplatzsorgen für die, die wirklich aufs Auto angewiesen sind. Auch das ist gut fürs Klima.
Mit Klimaanpassung unsere Städte wetterfest machen
Eine weitere Novelle wurde im Vermittlungsausschuss beschlossen: Auch städtebauliche Gründe sind nun gleichrangig zu den Mobilitätszielen zu berücksichtigen. Die Städte können nun, in Verbindung mit den erwähnten Rechtsverordnungen, auch schneller und effektiver gegen den Klimawandel vorgehen.
Oft erhitzen sich Straßenabschnitte in unseren Beton- und Asphaltwüsten der Innenstädte um zehn und mehr Grad gegenüber dem Umland - steigende Temperaturen der Erderhitzung noch nicht eingerechnet. Abkühlen lässt sich die Stadt mit mehr Grün, mehr Bäumen und mehr Rasenflächen, in denen Wasser verdunsten und durch den Prozess der Verdunstungskühlung seinen Beitrag leisten kann.
Mit unserem neuen Volksentscheid Baum in Berlin haben wir dazu Deutschlands erstes konkretes Klimaanpassungsgesetz für die kommunale Umsetzung vorgelegt, unser BäumePlus-Gesetz . Auch hier wird die Umsetzung davon profitieren, dass nun die bürokratischen Hürden abgebaut werden und unsere Planerinnen und Bürgermeister mehr Freiheitsrechte bekommen, unsere Städte auf Hitze, Dürre und Starkregen vorzubereiten.
Eine Win-Win-Lösung fürs Klima
Kommen wir zurück zu der Episode mit dem Schiedsrichter vom Anfang. Dieser Kompromiss im Vermittlungsausschuss löst die Interessenskonflikte und gibt den Menschen vor Ort ein klein wenig mehr Vorrang vor dem durchfahrenden Verkehr.
Ich denke, das ist eine Win-Win-Lösung fürs Klima: Gut gegen die Erderwärmung, gut für einen zivilisierten Umgang unter uns Verkehrswesen und gut gegen die zunehmenden Einschläge von Extremwetterlagen.