Gastbeitrag von Norbert Röttgen - Die US-Wahl wird auch Europa für immer verändern - wir müssen endlich handeln
Die transatlantischen Beziehungen stehen an einem Wendepunkt. Seit dem Zweiten Weltkrieg prägte eine enge Partnerschaft zwischen den USA und Europa die internationale Ordnung. Doch diese geopolitische Epoche ist zu Ende.
In Europa herrscht wieder Krieg; die USA sind als Gestaltungsmacht herausgefordert, wie nie und die regelbasierte internationale Ordnung zerfällt. Gleichzeitig ist eine neue Ordnung noch nicht zu erkennen.
Wir leben in einer gefährlichen Zwischenzeit. Der Ausgang der amerikanischen Präsidentschaftswahlen wird beeinflussen, wie viel Zeit Europa noch bleibt, sich darauf einzustellen. Aber schon jetzt ist klar, dass eine Weiterführung des Status quo nicht zu erwarten ist.
Wann diese Epoche, die längste Friedensepoche, die Europa je erlebt hat, zu ihrem Ende gekommen ist, kommt darauf an, wen man fragt. Für die Zentral- und Osteuropäer unverkennbar mit der Annexion der Krim. Aber weder wir Deutsche noch die Amerikaner wollten das wahrhaben.
Für alle erkennbar ist sie mit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vorbei. Wladimir Putin hat den Ausgang des Kalten Krieges – insbesondere den Zerfall der Sowjetunion und die darauffolgende Unabhängigkeit der mittel- und osteuropäischen Staaten – nie akzeptiert.
Es droht ein neuer Flächenbrand
Sein Ziel ist die Wiederbegründung eines russischen Imperiums in Europa. Für ihn ist die Ukraine dabei nur der Anfang und nicht das Ende.
Während Russlands Revisionismus sich gegen die europäische Friedensordnung richtet, zielt Chinas Veränderungsdrang gegen die globalen Regeln und Institutionen. Diese wurden nach 1945 von den USA und Europa geprägt, als China nur geringen Einfluss auf deren Gestaltung besaß.
Heute, als wirtschaftliche und militärische Großmacht, strebt es danach, diese Ordnung nach seinen eigenen Interessen zu verändern. Problematisch daran ist, dass China versucht, diese Veränderungen nicht durch Reformen, sondern durch Rechtsverletzungen und militärische Drohungen zu erreichen. Sichtbar wird dies momentan vor allem im Indopazifik.
Die USA geraten dabei immer stärker unter Druck und politisch wie finanziell an ihre eigenen Grenzen. Russland hat die USA mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine dazu gezwungen, sich sicherheitspolitisch wieder massiv in Europa zu engagieren.
Gleichzeitig nehmen im Pazifik Chinas Drohgebärden gegenüber Taiwan zu. Auch die Philippinen, Thailand und Japan sind durch Militärbündnisse und Sicherheitsabkommen mit den USA verbunden, um China abzuschrecken.
Parallel dazu ist mit dem Terror der Hamas gegen Israel der Krieg auch in den Nahen Osten zurückgekehrt. Es droht ein neuer Flächenbrand.
Strategisches Interesse Europas an US-Engagement
Es sind jedoch nicht nur die globalen Herausforderungen, die die USA herausfordern und zunehmend überfordern. Die USA sind durch eine hasserfüllte Polarisierung von innen bedroht, die an den Grundfesten der Demokratie rüttelt.
Kompromiss und Ausgleich scheinen nicht mehr möglich. Stattdessen stehen sich Ideologien und Wahrheiten gegenüber, die nur richtig und falsch kennen.
Diese neuen innen- und außenpolitischen Herausforderungen haben das politische Selbstverständnis der US-Amerikaner nachhaltig verändert.
Die seit ihrem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg historische gewachsene Überzeugung, dass die Sicherheit Europas im amerikanischen Interesse und wichtige Säule ihres globalen Einflusses ist, erodiert in weiten Teilen von Politik und Gesellschaft.
Eingefleischte Transatlantiker wie Joe Biden sind seltener geworden. Die Amerikaner sind in ihrer Mehrheit nicht mehr bereit, wie im Kalten Krieg für europäische Sicherheit mit ihrem Steuergeld zu bezahlen. Das haben viele Politiker, allen voran Donald Trump, erkannt und setzen im Wahlkampf darauf.
Brandgefährliche Entwicklung
Diese Entwicklung ist für uns brandgefährlich. Es ist im ureigenen strategischem Interesse Deutschlands und der EU, den Fortbestand des politischen und militärischen Engagements der USA in Europa zu sichern.
Nur so kann es gelingen, den Westen als normativen und geopolitischen Akteur durch dieses geopolitische Interregnum hindurch zu bewahren und in der sich neu formenden Ordnung wieder zu verankern.
Die transatlantischen Beziehungen sind somit eine Schicksalsgemeinschaft, für die es sich zu kämpfen lohnt.
Konkret heißt das, dass wir Deutsche und Europäer weitaus mehr tun müssen. Die transatlantische Gemeinschaft kann nur bestehen, wenn beide Seiten des Atlantiks einen fairen Teil der Last tragen. Daran führt kein Weg vorbei, egal, wer die Wahlen in den USA gewinnt.
Und doch ist der Ausgang der Wahlen entscheidend dafür, wie viel Zeit und Handlungsspielraum wir haben werden.
Trump würde Europas Sicherheit auf die Probe stellen
Die genauen Folgen einer Wiederwahl Donald Trumps sind unvorhersehbar. Und doch lässt sich feststellen: Eine zweite Amtszeit von Trump würde zu einem noch nicht dagewesenen massiven Bruch in den transatlantischen Beziehungen führen.
Seit seinem ersten Wahlsieg sind die politischen Spannungen innerhalb der USA und seine persönlichen Ressentiments deutlich gestiegen. Er wäre zudem besser vorbereitet und aggressiver in der Umsetzung seiner Ziele. Wir müssten mit einer Abkehr von der bisherigen US-Außenpolitik rechnen.
In keinem Bereich wäre dieser Bruch so radikal wie bei der Unterstützung der Ukraine. Beim Besuch des ukrainischen Präsidenten Selenskyj in Washington D.C. Ende September hat Trump klargemacht, wo er steht.
Deal zwischen Trump und Putin würde die Nato schwächen
Er würde die finanzielle und militärische Unterstützung sofort einstellen und, im schlimmsten Fall, über den Kopf der Ukraine hinweg einen Diktatfrieden mit Russland verhandeln. Wir Europäer müssen das ernst nehmen.
Es wäre der härteste Schock, den die transatlantischen Beziehungen je erlebt haben. Denn dass die Ukraine gewinnt und den Krieg besiegt, ist von höchster Bedeutung für die europäische Sicherheit. Trump würde dem den Boden unter den Füßen wegziehen. Europa wäre gezwungen, seine und die Sicherheit der Ukraine selbst zu organisieren.
Gleichzeitig würde ein solcher Deal zwischen Trump und Putin die Nato grundlegend schwächen. Das Vertrauen in das Verteidigungsbündnis wäre gerade bei den zentral- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, die regelmäßig Gegenstand russischer Drohgebärden sind, fundamental erschüttert. Für eine Organisation, die auf Vertrauen basiert, wäre das katastrophal.
Deutschland entzieht sich der US-China-Strategie
Sollte Kamala Harris gewinnen, wäre ein Schockerlebnis in den transatlantischen Beziehungen abgewendet. Aber ein Grund zur Sorglosigkeit wäre dies für uns Europäer trotzdem nicht.
Auch Harris würde den bereits seit Jahren bestehenden und nur durch den Überfall auf die Ukraine unterbrochenen Trend in der US-Außenpolitik, das Engagement in Europa zu verringern und sich stärker auf die Bedrohung durch China im Indopazifik zu fokussieren, fortführen.
Ebenso würde auch sie unter Druck stehen, die bisher für europäische Sicherheit eingesetzten Gelder zugunsten innenpolitischer Herausforderungen zu kürzen.
Sowohl für Demokraten als auch Republikaner ist die Einhegung Chinas die unangefochtene außenpolitische Priorität. Sie erwarten dabei, dass ihre Verbündeten in diesem Vorgehen eng an ihrer Seite stehen.
USA werden Druck auf Deutschland erhöhen
Bisher versucht die Bundesregierung jedoch, einem zu engen Schulterschluss zu entkommen. Bis heute geht Deutschland beim 5G-Ausbau einen Sonderweg mit chinesischen Herstellern, was sich auch durch den jüngst geschlossenen Formelkompromiss kaum ändert.
Die Bundesregierung legt Lippenbekenntnisse ab, in denen sie das wirtschaftliche „De-Risking“ von China propagiert, doch ernsthafte Schritte, um einen solchen Politikansatz umzusetzen, lässt sie vermissen.
Das deutsche Nein zu den europäischen Zöllen auf staatlich subventionierte Elektroautos aus China ist dabei nur der jüngste Fall in einer langen Reihe unrühmlicher Beispiele.
Unabhängig davon, ob Harris oder Trump gewinnt, werden die USA den Druck auf Deutschland und die EU erhöhen, sich im Wettstreit mit China enger auf ihre Seite zu stellen. Tun wir das weiterhin nicht, wird es die transatlantischen Beziehungen nachhaltig belasten.
Instabilität im Nahen Osten gefährdet Europa
Im Nahen und Mittleren Osten wird der bereits seit Jahren sichtbare schrittweise Rückzug der USA sich unter beiden Kandidaten fortsetzen – mit Konsequenzen auch für uns.
Ihre aktuell wieder verstärkte diplomatische und militärische Präsenz in der Region, getrieben durch die regionale Eskalation infolge des grausamen Terrorangriffes der Hamas gegen Israel vom 7. Oktober 2023, wird nicht von Dauer sein.
Gleichzeitig nimmt der Einfluss Chinas in der Region stetig zu. Das stellt uns Europäer vor ein neues Dilemma. Der diplomatische Einfluss der EU und Deutschlands in der Region, ganz zu schweigen vom militärischen, ist sehr gering.
Eine überzeugende Strategie, das zu ändern, existiert bislang nicht. Das ist umso dramatischer, als es sich um unsere südliche Nachbarschaft handelt. Instabilität und Unsicherheit in der Region wirken sich unmittelbar auf die Stabilität und Sicherheit in Europa aus.
Keine Kapitulation vor russischem Imperialismus
Wenn Europa bestehen will, muss es sich auf diese Veränderungen vorbereiten. Es muss sich die Einsicht durchsetzen, dass die Sicherheit unseres Kontinents zuallererst von uns selbst organisiert werden muss.
Einen Defätismus, wie von Olaf Scholz propagiert, wonach die Ukraine ohne die Hilfe der USA verloren sei, dürfen wir uns nicht zu eigen machen. Wenn die USA für die Ukraine ausfallen, dann müssen wir sie ersetzen.
Alles andere wäre eine Kapitulation vor dem russischen Imperialismus, die schlicht nicht in Frage kommt. Es geht um unser Europa.
Wenn wir nicht bereit sind, selbst mehr zu tun, wird uns das gleich doppelt schaden. Zum einen machen wir uns gegenüber Aggressoren wie Russland verwundbar, wenn wir keine glaubhafte Abschreckung organisieren. Zum anderen tragen wir dann dazu bei, die transatlantischen Beziehungen zu unterminieren.
Bereits heute werden wir Europäer von vielen in den USA als Trittbrettfahrer angesehen, die den Amerikanern die Kosten für ihre Sicherheit aufbürden. Um dieses Argument zu entkräften, müssen wir in unsere militärischen Fähigkeiten investieren.
Europas Zukunft hängt an Deutschland
Dabei kommt Deutschland die Schlüsselrolle zu. Die Staaten zwischen Deutschland und Russland, die unter Nazi-Herrschaft schlimmste Verbrechen erleiden musste, bitten uns heute, dass wir für Europa und in Zusammenarbeit mit ihnen Verantwortung übernehmen.
Kein anderes Land in Europa hat aufgrund von Lage, Wirtschaftskraft und politischer Stabilität die gleichen Voraussetzungen und Möglichkeiten wie Deutschland. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, müssen wir uns unserer Rolle endlich bewusst werden.
In der Bundesregierung scheint dieses Bewusstsein jedoch nicht vorhanden zu sein. Dabei hätte spätestens mit der russischen Invasion der Ukraine klar sein müssen, was zu tun ist.
Es wäre Deutschlands historische Aufgabe gewesen, schnell nach dem Krieg eine europäische Initiative zur Unterstützung der Ukraine zu starten, die Ost- und Westeuropa zusammenbringt.
Es wäre die Chance gewesen, ein europäisches Momentum zu schaffen und Europa als handlungsfähigen Akteur für die eigene Sicherheit entstehen zu lassen.
Es wäre die Absicherung gegen einen US-amerikanischen Rückzug gewesen und hätte als klares Zeichen, dass wir ihre Forderungen nach Lastenteilung verstehen und akzeptieren, diesen gleichzeitig unwahrscheinlicher gemacht.
Deutschland im Wartemodus
Statt sich mit Mut auf die neue Realität einzustellen, befindet sich die Bundesregierung im Wartemodus. Es ist die Wiederholung des gleichen Musters, das wir bei vergangenen Krisen gesehen haben: Wir machen weiter wie bisher.
Dabei ist es nicht so, dass diese Dinge schwer zu sehen wären. Es ist vielmehr eine Frage des fehlenden Willens und des Mutes, zu handeln und die Konsequenzen zu akzeptieren.
In den anstehenden USA-Wahlen steht viel auf dem Spiel. Für die USA, ihre Demokratie, aber auch für uns als ihre Verbündeten. Aus unserer eigenen Bequemlichkeit heraus haben wir uns abhängig gemacht und auch dann nicht umgesteuert, als klar war: Die Amerikaner wollen und können nicht mehr in gleichem Maße wie früher.
Wir müssen diese Bequemlichkeit jetzt ablegen und alles dafür tun, um im Sinne unserer Demokratie, Freiheit und Sicherheit wehrhaft zu werden. Nur dann werden wir als transatlantische Verbündete gut und gemeinsam durch diese gefährliche Zwischenzeit kommen, in der wir uns aktuell befinden.