Gastbeitrag von Oberst a. D. Ralph Thiele - Jetzt wird über Umwege zur Ukraine-Hilfe diskutiert - das birgt eine große Gefahr

Mindestens 14 Menschen kamen bei einem russischen Luftangriff auf einen ukrainischen Supermarkt ums Leben.<span class="copyright">Iryna Rybakova/AP/dpa</span>
Mindestens 14 Menschen kamen bei einem russischen Luftangriff auf einen ukrainischen Supermarkt ums Leben.Iryna Rybakova/AP/dpa

Die Entscheidung der Bundesregierung, keine neuen militärischen Bestellungen für die Ukraine zu genehmigen, ist offensichtlich nicht in Stein gemeißelt. Es wird über „Umwege“ diskutiert. Damit verbinden sich absehbar große Gefahren - auch für Deutschland.

Nachdem die EU im Jahr 2014 noch größte Schwierigkeiten sah, den ukrainischen Haushalt jährlich mit rund fünf Milliarden Euro zu unterstützen, schien seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vor zweieinhalb Jahren keine Summe für Waffenhilfe und andere Leistungen zu hoch.

Deutschland übernahm in Europa eine unbestrittene Führungsrolle. Jetzt hat die Regierenden die Realität eingeholt. Nach der aktuellen Haushaltsplanung der Ampel-Koalition darf nur noch bereits bewilligte Militärhilfe an Kiew geliefert werden.

Auch wenn es so nicht vorgesehen war, hat die Entscheidung unmittelbaren Auswirkungen auf die Fähigkeit der Ukraine, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen.

Bundeswehr-Dreikampf „Schieben, Strecken, Streichen“ läuft zu neuer Höchstform auf

Die verordneten Sparmaßnahmen der Bundesregierung wirken sich bereits jetzt auf die ukrainische Kampfkraft aus. Denn aktuelle Ersatzteillieferungen an die Ukraine können nicht mehr bedient werden, ohne die ohnehin kaum noch vorhandenen Bestände der Bundeswehr weiter zu kanibalisieren.

Gegebenenfalls müssten sogar einsatzfähige Systeme der Bundeswehr für Ersatzteile ausgeschlachtet werden, um den Bedarf der Ukraine zu decken.

An eine Wiederbeschaffung abgegebener Ersatzteile, Waffensysteme und Munition für die Bundeswehr ist in der gegeben Haushaltslage nicht zu denken. In einer zunehmend rauen Welt wird nicht nur die Ukraine geschwächt, sondern auch die Bundeswehr selbst.

Dabei ist sie der militärische Anker der europäischen Verteidigung in EU und Nato. Weiterhin werden neue zeitkritische Lieferungen an die Ukraine für dringend gebrauchte Waffensysteme und Munition unterbleiben müssen.

Etwaige Ausnahmen werden viel zusätzliche Bürokratie erfordern. Der in den letzten Jahrzehnten bewährte Bundeswehr-Dreikampf „Schieben, Strecken, Streichen“ läuft absehbar zu einer neuen Höchstform auf.

Bisher schienen Verhandlungen undenkbar

Die ins Auge gefasste Finanzierung der militärischen Unterstützung der Ukraine durch eingefrorene russische Zentralbankguthaben ist bislang nach Auffassung zahlreicher Sachkenner eine Luftnummer auf unsicherer Grundlage - und keine realistische Alternative zu einer soliden Finanzplanung.

Die vorgesehenen drastischen Reduzierungen der deutschen Militärhilfe bis 2027 reichen allenfalls, wenn es zu einem Waffenstillstand mit Moskau kommt.

In den bisherigen öffentlichen Verlautbarungen politischer Verantwortungsträger schienen Verhandlungen für einen Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland undenkbar.

Nun legt ein Bericht der „Washington Post“ offen, dass es bereits geheime Vorgespräche gab. In diesen Wochen sollten in Katar indirekte Gespräche über ein Abkommen zur Einstellung der Angriffe zumindest auf die gegenseitige Energie- und Strominfrastruktur geführt werden.

Ukraine: Im ganzen Land ständig Stromausfälle

Das wäre einem teilweisen Waffenstillstand gleichgekommen und hätte beiden Ländern eine Atempause verschafft. An den Verhandlungen Beteiligte hatten gehofft, dass es im Zuge der Gespräche zu einer umfassenderen Vereinbarung zur Beendigung des Krieges kommen könnte.

Der überraschende Einmarsch der Ukraine in die westliche russische Region Kursk hat diesen Ansatz vorerst scheitern lassen.

Zuvor standen die Chancen für eine Einigung gar nicht schlecht. Seit mehr als einem Jahr bombardiert Russland das ukrainische Stromnetz mit einer Flut von Marschflugkörpern und Drohnenangriffen. Ukrainische Kraftwerke wurden irreparabel beschädigt.

Es gibt im ganzen Land ständig Stromausfälle. Die Sorge besteht, dass im kommenden Winter regelmäßig nur sechs bis acht Stunden täglich Strom bereitgestellt werden kann.

Die Ukraine hatte durch unzählige Drohnenangriffe auf Raffinerien, Depots und Reservoirs sowie russische Ölanlagen wiederum die Ölraffineriekapazität Moskaus um schätzungsweise 15 Prozent reduziert. In der Folge sind die Gaspreise weltweit gestiegen.

Europäische Union war bisher ein Friedensprojekt

Vielleicht hatte die Bundesregierung in ihren Überlegungen zum Haushalt einen möglichen Waffenstillstand eingepreist? In jedem Fall stellt sich immer dringender die Frage, wie lange Deutschland mit welchem Einsatz und welcher Zielsetzung den Freiheitskampf der Ukrainer finanziell unterstützen kann.

Und natürlich auch, welche Risiken es dabei für die deutsche, europäische und transatlantische Verteidigung einzugehen bereit ist.

Offensichtlich ist, dass eine weitere Aushöhlung deutscher und europäischer militärischer Fähigkeiten nicht zu der Sicherheitslage der Zeitenwende passt. Im Gegenteil: Wir müssen bereit sein, uns vor einem wiedererstarkten Russland zu schützen. Aber auch der Nahostkonflikt fordert unsere Sicherheit heraus.

Deswegen schützen wir zum Beispiel die internationalen Seefahrtswege vor den Angriffen der Houthis. Hinzu kommen weiterhin Sicherheitsaufgaben in Asien, denn unser fortgesetzter Wohlstand hängt weitgehend davon ab, dass unser Handel in stabilen und sicheren Rahmenbedingungen stattfinden kann.

Die Europäische Union war bislang vornehmlich ein Friedensprojekt. Sie und ihre Mitgliedsstaaten müssen nun dringlich auch mit harten militärischen und hybriden Bedrohungen zurechtkommen können.

Bundeswehr wird noch mehr Fähigkeiten verlieren

Die Entscheidung der Bundesregierung, keine neuen militärischen Bestellungen für die Ukraine zu genehmigen, hat offensichtlich keine große Haltbarkeit.

Schon Stunden nach der Verlautbarung gab es aus dem Kanzleramt und vom Finanzminister Hinweise auf denkbare Umwege zum Ziel einer weiteren Unterstützung der Ukraine. Dennoch verbinden sich mit diesen Umwegen absehbar große Gefahren für die Ukraine und auch Deutschland.

Der übliche Reflex auf zusätzliche Ausgaben für Krisen und Kriege fern der Heimat besteht darin, sich aus dem Bestand und Investitionsplafond der Bundeswehr zu bedienen.

Wir müssen damit rechnen, dass die Bundeswehr noch mehr Fähigkeiten verliert und geplante neue Fähigkeiten deutlich später – das heißt etliche Jahre - die Truppe erreichen werden. Zugleich muss sich auch die Ukraine auf längere Wartezeiten ihrer Bestellungen einrichten.

Deutschland braucht dringend zielführende Strategie

Da die geplanten größeren Produktionskapazitäten des Westens für Waffen und Munition erst im Jahr 2028 ihre beabsichtigte volle Leistungsfähigkeit erreichen sollen, ist auch fraglich, ob die europäische Industrie vor dem Hintergrund der knappen Mittel tatsächlich weiterhin energisch den Aufbau neuer Kapazitäten betreibt.

Wie kann es vor diesem Hintergrund weitergehen? Ein Waffenstillstand nützt allen Beteiligten. Deutschland und die Europäische Union brauchen hierfür dringend eine Strategie die klar Ziele, Wege und Mittel definiert. Und sie brauchen Profis bei der Umsetzung der Ziele.

Aus der Hand in den Mund kann es nicht weitergehen. Zumindest nimmt das kein gutes Ende.