Gastbeitrag von Rainer Zitelmann - Warum in Argentinien nur die Schocktherapie hilft – und wovon Mileis Erfolg abhängt
Präsident Javier Milei, der sich selbst als „Anarchokapitalist“ bezeichnet, hat den Kampf gegen die Armut in Argentinien aufgenommen. Die ersten Erfolge sind beeindruckend, die Inflation ist erstmals seit Jahrzehnten einstellig.
Polen, das durch die kapitalistische Schocktherapie von Leszek Balcerowicz (Vize-Premierminister und Finanzminister in Polen ab 1989) von einem der ärmsten Länder Europas zu Europas Wachstumschampion wurde, zeigt, dass das, was Milei sich für Argentinien vorgenommen hat, erfolgreich sein und Argentinien zu einer glänzenden Zukunft führen kann – aber nur unter einer Bedingung.
Argentiniens Abstieg
Zur Geschichte: Es gibt wohl kein Land der Welt, das in den letzten 100 Jahren einen so dramatischen Abstieg erlebt hat wie Argentinien. Anfang des 20. Jahrhunderts war das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung eines der höchsten der Welt. Der Ausdruck „riche comme un argentin“ (reich wie ein Argentinier) war zu dieser Zeit ein gängiger Ausdruck.
Der Niedergang begann mit Juan Domingo Perón. Er wurde im Februar 1945 zum Präsidenten gewählt. Seine politische Agenda: mehr Staat. Argentiniens Telefongesellschaft wurde verstaatlicht, ebenso die Eisenbahnen, die Energieversorgung, der private Rundfunk. Allein zwischen 1946 und 1949 verdreifachten sich die Staatsausgaben. Die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst stieg von 243.000 im Jahr 1943 auf 540.000 im Jahr 1955 - viele neue Arbeitsplätze wurden in Regierungsbehörden und im öffentlichen Dienst geschaffen, um die Unterstützer von Peróns Arbeiterpartei zu versorgen. Die Wirtschaftspolitik war sozialistisch: Obwohl das Passagier- und Frachtaufkommen bei der Bahn stagnierte, stieg die Zahl der Beschäftigten zwischen 1945 und 1955 um mehr als 50 Prozent. Die peronistischen Gewerkschaften wurden neben dem Militär zu den mächtigsten Organisationen in Argentinien.
Argentinische Geschichte geprägt von Hyperinflation und Verarmung
Wirtschaftlich ist die argentinische Geschichte eine von Inflation, Hyperinflation, Staatsbankrotten und Verarmung. Seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1816 hat das Land neun Staatsbankrotte erlebt, den letzten im Jahr 2020 - eine tragische Geschichte für ein so stolzes Land, das einst zu den reichsten der Welt gehörte.
Mit Ausnahme der 90er Jahre litt Argentinien seit 1945 in jedem Jahr unter zweistelliger Inflation. Als Milei gewählt wurde, litt das Land unter Hyperinflation und rasch steigender Armut.
Wie Balcerowicz Polen aus der Armut führte
Ähnlich war die Situation in Polen, als Leszek Balcerowicz dort 1990 mit seinen Reformen begann. Polen war in den 80er Jahren eines der ärmsten Länder Europas, ärmer als die Ukraine. Die Schuldenlast Polens gegenüber den westlichen Gläubigern wurde immer größer, und 1984 war Polen der drittgrößte Schuldner der Welt. Die Bruttoauslandsverschuldung stieg von 1,1 Mrd. USD im Jahr 1971 auf 40 Mrd. USD im Jahr 1989, mehr als in jedem anderen sozialistischen Land. 1989 betrug die jährliche Inflationsrate in Polen 640 Prozent.
Der große Reformer Balcerowicz, dem Polen seinen heutigen Wohlstand zu verdanken hat, war, so wie Milei, Ökonom. So wie Milei folgte er den Lehren der „Österreichischen Schule“ der Ökonomie und war stark von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek beeinflusst. So wie Milei in Argentinien führte er in Polen eine „Schocktherapie“ durch.
Polen ist heute eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder Europas
Seine Reformen waren die Voraussetzung, das Polen heute eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder Europas ist. Im Jahr 2017 erschien ein bemerkenswertes Buch des Ökonomen Maric Piatkowski, „Europe’s Growth Champion“, in dem er Bilanz zog nach 25 Jahren: „Doch 25 Jahre später ist Polen zum unangefochtenen Vorreiter des Wandels und zum Wachstumschampion in Europa und der Welt geworden. Seit Beginn des postkommunistischen Übergangs im Jahr 1989 ist Polens Wirtschaft stärker gewachsen als die jedes anderen Landes in Europa. Das polnische BIP pro Kopf ist fast um das Zweieinhalbfache gestiegen und dieser Zuwachs übertrifft damit nicht nur alle anderen postkommunistischen Staaten, sondern auch die Euro-Zone.“
Nach den Daten der Weltbank betrug das BIP pro Einwohner im Jahr 1989 30,1 Prozent des entsprechenden Wertes in den USA und stieg bis zum Jahr 2016 auf 48,4 Prozent des US-Niveaus. Und dies machte sich auch im Leben der Menschen bemerkbar. Das Einkommen der Polen wuchs von ca. 10.300 USD im Jahr 1990 kaufkraftbereinigt auf fast 27.000 USD im Jahr 2017. Vergleicht man das Einkommen der Polen mit denen in der EU-15, dann lag es 1989 bei weniger als einem Drittel und stieg auf knapp zwei Drittel im Jahr 2015.
Obwohl Ostdeutschland Milliardensubventionen aus Westdeutschland bekam, verbesserte sich – relativ gesehen – das Einkommen der Polen stärker als das der Ostdeutschen. Auch im weltweiten Maßstab war das Wachstum in Polen bemerkenswert – es wuchs zeitweise sogar schneller als die wachstumsstarken asiatischen Länder Südkorea, Singapur oder Malaysia.
Schocktherapie wirkt – aber erst wird manches schlechter
Das Beispiel Polens zeigt: Kapitalistische Reformen und die Schocktherapie funktionieren! Aber Polen enthält noch eine zweite Lehre, die für die Argentinier heute mindestens so wichtig ist: Bevor es besser wurde, wurde erst einmal zwei Jahre lang vieles schlechter.
Eine vorhersehbare negative Folge der wirtschaftlichen Reformen war, dass das BIP einige Jahre lang einbrach, bevor es wieder wuchs. In Polen betrug der Rückgang im Jahr 1990 11,6 Prozent und 1991 7,6 Prozent. Die Arbeitslosenquote stieg von Null auf 12 Prozent im Jahr 1991 und dann auf 14 Prozent im Jahr 1992. Natürlich darf nicht vergessen werden, dass Polen, wie Argentinien, eine hohe Rate an versteckter Arbeitslosigkeit hatte. Die Kommunisten waren sehr kreativ in den Methoden, um die Arbeitslosigkeit zu verbergen.
Nach dem Ende des Sozialismus wurde die bis dahin versteckte zur offiziellen Arbeitslosigkeit. Es war unvermeidlich, dass Menschen, die in Staatsbetrieben arbeiteten, die bei weitem nicht wettbewerbsfähig genug für den Weltmarkt waren und dank staatlicher Subventionen nicht in Konkurs gehen durften, ihre Arbeit verlieren würden. Die Staatsbetriebe schrumpften. Gleichzeitig wurden zahlreiche neue Unternehmen gegründet.
Das Beispiel Polen enthält also zwei wichtige Lehren:
Die kapitalistische Schocktherapie funktioniert. Milei folgt genau den gleichen Lehren und Prinzipien wie Balcerowizc. Beide waren mit genau den gleichen Problemen konfrontiert: Extreme Staatsverschuldung, extreme Inflation, Armut und ein Staat, der die Wirtschaft erdrosselte.
Bevor es besser wird, muss vieles schlechter werden. Was in Jahrzehnten ruiniert wurde, kann nicht in einem Jahr geheilt werden.
Die Argentinier haben die Wahl: Entweder sie verstehen das und haben Geduld, zwei schwierige Jahre zu durchstehen. Oder sie haben diese Geduld nicht und hören auf die Peronisten, die wieder zurück an die Macht wollen. Wenn sie Geduld haben, hat Argentinien eine blühende Zukunft. Wenn nicht, wird Argentinien wieder in einem Strudel von Schulden, Inflation und Armut versinken.
Rainer Zitelmann ist Autor des Buches „Weltreise eines Kapitalisten“, das auch von Argentinien und Polen handelt. https://zitelmann-weltreise.de/