Gastbeitrag von Ralph D. Thiele - Putin-Armee schlägt bei Kursk zurück - wichtiger ist jedoch ein anderer Kampf der Ukraine

Auf diesem vom Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums veröffentlichten Foto zielt ein russischer Soldat mit einer Drohnenabwehrkanone an einem nicht genannten Ort in der Region Donezk in der Ukraine.<span class="copyright">Foto: dpa/Uncredited</span>
Auf diesem vom Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums veröffentlichten Foto zielt ein russischer Soldat mit einer Drohnenabwehrkanone an einem nicht genannten Ort in der Region Donezk in der Ukraine.Foto: dpa/Uncredited

Im Grenzgebiet Kursk toben heftige Kämpfe: Nach der überraschenden Offensive der Ukraine schlägt Russland zurück. Während beide Seiten Verluste hinnehmen, drängt Kiew auf mehr Waffen – die Entscheidung könnte den Kriegsverlauf entscheidend verändern.

Sucht man Dynamik in der Auseinandersetzung von Russen und Ukrainern, war in den letzten Wochen vor allem die Region Kursk „the place to be“.  Die Ukraine war dort Anfang August überraschend für Freund und Feind eingedrungen. Bei dieser historisch ersten Offensive auf russisches Territorium seit dem 2. Weltkrieg hatten ukrainische Soldaten dort in einer beeindruckenden Operation mehr als 1000 Quadratkilometer erobern können und dabei auch viele russische Soldaten gefangen genommen.

Die russische Militärführung hält den Druck hoch

Ziel des Vorstoßes war es vermutlich, die russischen Nuklearanlagen bei Kursk zu besetzen, wichtige russische Eisenbahnknotenpunkte zu erobern und damit Moskau implizit zum Abzug von Soldaten aus dem ostukrainischen Gebiet Donezk zu zwingen. Alle drei strategischen Ziele sind nicht gelungen. Die russische Militärführung nutzt zur Bekämpfung der ukrainischen Invasoren weit überwiegend andere Truppen. Zugleich hält sie den Druck auf das ostukrainische Gebiet Donezk hoch.

Die russische Hauptangriffsachse wurde somit nicht geschwächt. Die ukrainischen Erfolge der Kursk Offensive beschränken sich neben der Eroberung von unbedeutendem Land und der Gefangennahme russischer Soldaten auf psychologische Faktoren: die Relativierung russischer Dominanz; das Untergraben von Putins Ansehen bei russischen Eliten; die Stärkung der eigenen Moral von Soldaten und Bevölkerung; die Revitalisierung der westlichen Unterstützung für die Ukraine; die Schwächung des amerikanischen Widerstands gegen die Nutzung weitreichender Waffensysteme auch in Russland.

Im Verlauf der Zeit geriet die ukrainische Offensive allerdings ins Stocken. Nun gibt es neue Bewegung. Russland hat mehr als einen Monat nach dem ukrainischen Vorstoß eine Gegenoffensive im Gebiet Kursk zur Vertreibung der dort eingedrungenen ukrainischen Truppen begonnen.

Russische Truppen eroberten bereits 10 Ortschaften zurück

Sowohl aus Moskau als auch aus Kiew wird durch nicht offizielle Quellen bestätigt, dass russische Streitkräfte einen konzertierten Vorstoß gegen ukrainische Truppen in der Grenzregion Kursk gestartet haben. Die ukrainischen Streitkräfte versuchen, das mit Störangriffen zu verhindern. Sie konnten zunächst einige zuvor umkämpfte Geländeabschnitte sichern. Insbesondere gelang ihnen dies bei der Ortschaft Krasnooktjabrskoje am Ufer des Flusses Seim im Westen des Kampfgebiets, im Norden bei Kremjanoje und Pogrebki.

Die russische Gegenoffensive hat nach Angaben russischer Militärblogger die Gegend um Snagost und entlang der von der ukrainischen Grenze dorthin führenden Straße wieder unter ihre Kontrolle gebracht und die ukrainischen Kräfte bei Krasnooktjabrskoje eingekesselt. Bereits zuvor war es ihnen gelungen, die Ukrainer vom Ortsrand von Korenewo im Nordwesten sowie bei Ulanok im Südosten zurückzudrängen. Im Ergebnis wurden bislang durch russische Truppen bereits zehn Ortschaften zurückgewonnen.

Ob die Initiative mit den jüngsten Entwicklungen nun dauerhaft auf die russische Seite übergeht, bleibt abzuwarten. Beide Seiten haben mittlerweile erhebliche zusätzliche Kräfte zugeführt und erleiden gleichzeitig erhebliche Materialverluste. Die Ukraine muss sich jetzt entscheiden, ob sie trotz der prekären Lage in der Ostukraine mit verbliebenen Reserven das Engagement in der Region Kursk weiter verstärken will.

Selenskyj bittet Biden um Waffen

Zeitgleich verstärkt Präsident Selenskyj seine Bemühungen, die Biden-Regierung zur Freigabe der Nutzung weitreichender Waffen auch auf russischem Boden zu bewegen. Die Biden-Regierung hatte die Ukraine im vergangenen September mit ATAMS-Raketen beliefert, die eine Reichweite von etwa 290 Kilometern haben, aber nicht erlaubt, diese gegen russisches Territorium einzusetzen.

Diese Entwicklungen kommen zu einem kritischen Zeitpunkt, an dem die Ukraine in den letzten Tagen schweren Bombardierungen durch Russland ausgesetzt war – insbesondere im Energiesektor. Die Lobbyarbeit der Ukraine ist eine Fortsetzung der Dynamik, die die Beziehungen zwischen Kiew und Washington seit der groß angelegten russischen Invasion vor zweieinhalb Jahren kennzeichnet.

Ein Wendepunkt des Krieges liegt in der Luft

Die Ukraine drängt auf mehr und bessere Waffen, während Washington sich aus Sorge vor einer Eskalation mit Russland zunächst widersetzt, später aber nachgibt. Kiew spekuliert darauf, dass dies auch diesmal gelingt. Man argumentiert, dass die Freigabe, solche Waffen gegen russisches Territorium einzusetzen, die Bedrohung verringern würde, indem der Kreml gezwungen würde, wichtige Streitkräfte tiefer in sein Land zu ziehen.

Bislang bleibt US-Präsident Biden jedoch vorsichtig. Er will die Vereinigten Staaten nicht in einen direkten Konflikt mit Russland hineinziehen lassen. Dennoch; der Widerstand des amerikanischen Außenministers wird in dieser Angelegenheit hörbar schwächer.

Sein britischer Amtskollege soll sogar intern bereits die Bereitschaft zur Freigabe der Storm Shadows bekundet haben. Selenslyj fliegt in Kürze nach Washington, um Biden in einem persönlichen Gespräch von der Freigabe zu überzeugen. Ein Wendepunkt des Krieges liegt in der Luft. Soll er, kann er zu Waffenstillstandsverhandlungen beitragen? Oder führt er zu einer galoppierenden Eskalation des Konflikts?