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Gefährliche Kabinenluft: Nervengifte in 10.000 Metern Höhe

Kabinenluft: Gefahr für Flugpassagiere in 10.000 Metern Höhe

Sitzreihen im Flugzeug: Die engen Kabinen werden mit „Zapfluft“ versorgt – das kann ein Gesundheitsrisiko sein.  (Foto: Getty)
Sitzreihen im Flugzeug: Die engen Kabinen werden mit „Zapfluft“ versorgt – das kann ein Gesundheitsrisiko sein. (Foto: Getty)

Die Luft in Zivilflugzeugen ist potenziell gesundheitsschädlich. Endlich soll eine EU-Norm kommen – es zeichnet sich ein schwacher Kompromiss ab.

Schon auf dem Weg zur Startbahn bemerken die Piloten des British-Airways-Flugs BA-466 von London nach Madrid am 16. Februar dieses Jahres einen seltsamen chemischen Geruch im Cockpit. Die Kabinencrew bestätigt diesen auch außerhalb der Flugzeugkanzel. Dennoch startet der Airbus 319 wie geplant, nach etwa zwei Minuten verflüchtigt sich der Geruch. Doch dann, als sich der Jet Spanien nähert, fühlen sich die Piloten zunehmend müde. Es fällt ihnen schwer, sich wie gewohnt zu konzentrieren.

Auch die Flugbegleiter wirken erschöpft, die Missgeschicke beim Service häufen sich. Dennoch kann Flug BA-466 rund zwei Stunden nach dem Start wie geplant in Madrid landen. Dort ordnet der medizinische Dienst sofort an, dass das Personal für 20 Minuten an eine Sauerstoffversorgung angeschlossen wird.

Vorfälle wie dieser finden sich auf Portalen wie „Aviation Herald“, einer als seriös geltenden Flugsicherheits-Website, immer wieder. Das ist kein Wunder: Seit 1955 weiß man, dass die Kabinenluft gesundheitsschädlich sein kann. Es geht nicht um das Coronavirus, sondern um Chemie: Was wir auf zehn Kilometer Höhe einatmen, ist sogenannte Zapfluft. Sie wird aus den Verdichtern der Flugmotoren abgeleitet.

Erst anschließend wird jeweils die Hälfte der Kabinenluft rezykliert und gefiltert. Zapfluft, auf Englisch „bleed air“ genannt, kann mit einem Cocktail giftiger Substanzen belastet sein, der unter anderem verbrannte Rückstände von Motor- und Hydrauliköl enthält.

65 Jahre, Tausende von Erkrankungen und Hunderte von Studien nach der ersten Warnung vor Zapfluft will die EU jetzt endlich eine Norm erlassen. Die EU-Normenbehörde CEN will nach Informationen des Handelsblatts im September einen Vorschlag fertigstellen, der anschließend von den Gremien beschlossen werden soll.

Coronavirus: Nein, die Luft in Flugzeugen ist nicht so virenfrei wie im OP

Dann soll der seit sechs Jahren tobende Streit zwischen Gewerkschaften und Verbraucherverbänden auf der einen, Industrie und Airlines auf der anderen enden. Das Problem: Es zeichnet sich ein Kompromiss für einen Standard ab, der kaum Biss haben wird.

Wenigstens wird es dann zum ersten Mal überhaupt eine Norm geben. Es klingt wie ein Treppenwitz, ist aber keiner: Bislang hat die EU eine Norm für die Qualität der Luft, die Kompressoren ansaugen. Aber nicht für die Luft, die die Passagiere viele Stunden einatmen – und Piloten und Flugbegleiter sogar ein Berufsleben lang.

Dabei schrieb bereits im Jahr 1955 der Amerikaner Henri A. Reddall von der US-Ingenieurvereinigung SAE: „Die aus den Verdichtern einiger Turbojet-Triebwerke mit hohem Verdichtungsverhältnis austretende Luft ist verunreinigt, weil intern Motoröl in die Verdichterluft austritt. Externe Leckagen von Öl oder anderen Flüssigkeiten, bei denen solche Flüssigkeiten in den Lufteinlass des Motors gelangen können, können ebenfalls eine Verunreinigung verursachen.“

Als Entzündungshemmer und zur Minderung des Abriebs werden den synthetischen Ölen in Flugmotoren Substanzen beigemischt, deren Giftigkeit bekannt ist und die deshalb auf dem Boden verboten sind – in der Luft aber nicht. Jeder, der öfter fliegt, hat schon mal erlebt, dass es plötzlich nach Kerosin oder Chemikalien stinkt. Tritt das in großem Umfang auf, handelt es sich um ein sogenanntes „fume event“.

Gewerkschaften rangeln mit der Industrie

Seit sechs Jahren wird endlich an einem solchen Standard gearbeitet. Zuständig ist ein Ausschuss der Europäischen Normenbehörde CEN. Die Arbeiten laufen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Man erfährt nicht einmal, wer in dem CEN-Gremium vertreten ist. Intern flogen anfangs die Fetzen, wenn man Vincent Edery Glauben schenkt. Der Franzose ist eine Schlüsselfigur im Ringen um bessere Luft über den Wolken: Er leitet „TC 436“, den Ausschuss der EU-Normenbehörde CEN, der seit 2015 diskret verhandelt.

Offen spricht Edery über die Interessengegensätze in seinem Ausschuss: Die Gewerkschaften wollten den Herstellern eine Technik vorschreiben, die an der Quelle die verschmutzenden Stoffe vermeidet – den Übergang zu einem System, bei dem keine Luft mehr aus den Motoren in die Kabine geleitet wird. Darauf aber ließen sich die Hersteller nicht ein, konstatiert der Franzose nüchtern.

Außerdem wollten die Arbeitnehmer Aktivkohle- und Hochleistungsfilter sowie Sensoren vorschreiben, die beim Auftreten von Schadstoffen während des Flugs Alarm schlagen. Auch das werde wohl nicht kommen: „Die Norm wird nichts vorschreiben“, urteilt Edery. Zwar sei es „unsere Absicht, die Konzentration toxischer Gase zu begrenzen“, aber der neue Standard, sollte er tatsächlich vereinbart werden, „schreibt nicht vor, er erläutert, beschreibt, wie es gehen könnte“.

CEN arbeitet nach dem Delegationsprinzip. Das Sekretariat für „TC 436“ wurde an Frankreichs Normenbehörde AFNOR übergeben, die hat BNAE, das „Normenbüro für Luft- und Raumfahrt“ mit den Arbeiten betraut. Dem gehört Edery an.

Beim BNAE arbeitet auch die Expertin Marina Epis. Sie redet nicht um den heißen Brei herum, sagt offen, dass die Anliegen der Gewerkschaften und Verbraucher die Technik verteuerten, „und wenn die Anwendung der Norm zu teuer ist, dann wenden die Hersteller sie nicht an“. Verbindlich ist eine CEN-Norm nur, wenn die EU-Kommission sie vorschreibt. Das erwartet aber niemand.

Dem europäischen Flugzeugbauer Airbus zufolge besteht eh kein Grund zur Sorge: „Nirgendwo ist die Luftqualität besser als in einem Flugzeug“, sagt CEO Guillaume Faury. Die EU-Flugsicherheitsbehörde EASA habe in Studien festgestellt, dass die in Experimenten gemessene Kabinenluft unbedenklich sei, teils besser als in Büros oder Klassenzimmern. Die Lufthansa äußert sich auf Anfrage fast wortgleich, verweist ebenfalls auf die EASA-Studie, die auch belege, „dass es aktuell keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen der Kabinenluft und gesundheitlichen Problemen gibt“.

Und weil das so sei, brauche man auch keine Sensoren für Schadstoffe an Bord, folgert die französische Expertin Epis. Nur: Wie kann man wissen, dass die Kabinenluft allzeit sicher ist, wenn sie während des Flugs gar nicht gemessen wird? Epis stutzt und sagt dann mit verblüffender Offenheit: „Das kann ich Ihnen auch nicht erklären.“

Sie muss es auch nicht. Denn neben den Diskussionen über die Norm gibt es die normative Kraft des Faktischen: Rund 25.000 zivile Jets gibt es auf der Welt – und die arbeiten alle mit „bleed air“.

Die Regulierer wie die amerikanische FAA oder die europäische EASA könnten die Hersteller zu Änderungen zwingen, denken aber nicht daran, wie Judith Anderson bedauert. Sie vertritt im CEN-Gremium die Europäische Transportarbeitergewerkschaft ETF.

Flugzeug- und Motorenhersteller sowie die Airlines sitzen beim Feilschen um die Norm am längeren Hebel: Ohne Konsens in den geheimen Beratungen wird sich auch in den kommenden Jahren nichts tun. Verzichten die Kritiker dagegen auf bestimmte Forderungen, „können wir mit einer Norm zumindest ein paar Fortschritte erreichen“, sagt Anderson. Bessere Wartung, bessere Ausbildung und Sensibilisierung der Arbeitnehmer solle vorgeschrieben werden. Denn ob eine Dichtung im Motor gerade noch hält oder perfekt dicht ist, das kann einen großen Unterschied machen.

Die Branche weist die Vorwürfe zurück

Eine der Hoffnungen von Anderson sind die Sensoren, die bei Schadstoffen in der Kabinenluft Alarm schlagen würden. Sie würden im neuen Text, der gerade diskutiert wird, zumindest nachdrücklich empfohlen, wenn auch wohl nicht verbindlich vorgeschrieben. „Wir haben nun mal für die nächsten 40 Jahre eine Flotte von Flugzeugen, bei denen die Luft aus den Motoren kommt, damit müssen wir umgehen, auch wenn wir eigentlich weitergehende Ziele haben“, begründet Anderson ihren Pragmatismus, den sie nicht als Kapitulation verstanden wissen will.

Viel härter urteilt der EU-Verbraucherverband ANEC über die Norm: „Das Dokument kann sogar gefährlich sein, weil es ein falsches Gefühl der Sicherheit erzeugt.“

Verschiedene Studien haben im Laufe der Jahre festgestellt, dass fliegendes Personal überdurchschnittlich häufig an Störungen wie Schwindelgefühl, Depressionen oder Fehlgeburten leidet. Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung berichtet im Zeitraum 2006 bis 2013 über 663 Zwischenfälle mit kontaminierter Zapfluft. In einigen dieser Fälle habe „eine hohe Unfallwahrscheinlichkeit“ bestanden.

Doch die Lufthoheit bei diesem Thema haben eindeutig die Hersteller und die Airlines. „Sie leugnen den Zusammenhang mit der Zapfluft, genauso, wie lange die Schädlichkeit von Asbest oder Zigaretten geleugnet wurde“, kritisiert der Europäische Gewerkschaftsverbund ETUC.

Weder in den USA noch in Europa gibt es eine einheitliche, stringente Berichtspflicht für Zwischenfälle mit verunreinigter Luft. Deshalb gibt es kein eindeutiges Register, und deshalb können die Verteidiger der Motorenluft schlankweg behaupten, die Technik sei über jeden Zweifel erhaben. Expertin Anderson hat Daten der US-Luftfahrtbehörde FAA analysiert. Danach gab es einen ernsten Zwischenfall pro 5000 Flüge, bei dem Ölqualm oder -nebel aus der Luftversorgung strömte. Das sind jeden Tag 5,4 Ereignisse, bei denen die Zapfluft giftige Bestandteile befördert.

Aber was ist mit dem Verweis von Airbus und Lufthansa auf die EASA-Studie, laut der „die Luftqualität von Messflügen vergleichbar mit der in normalen Innenräumen wie Klassenzimmern oder Büros“ sei? Die Studie existiert, ihre Ergebnisse basieren allerdings auf lediglich 69 Testflügen mit speziell präparierten Maschinen – wohl zu wenig, um repräsentativ zu sein. Eine andere EASA-Untersuchung warnt vor den Schmierölen, die bei sehr hoher Temperatur (Pyrolyse) in den Flugmotoren verbrannt werden und dann in die Kabinenluft gepresst werden können: „Längere Exposition gegenüber Pyrolyseprodukten kann deren potenzielle Neurotoxizität verschlimmern… Aktuelle Daten deuten darauf hin, dass das Nervensystem am empfindlichsten auf potenzielle Auswirkungen der Pyrolyseprodukte der Turbine reagiert.“

Es gibt Alternativen zur Zapfluft

Die EU-Behörde für Luftsicherheit, das sagen Airbus und Lufthansa nicht, fordert deshalb nachdrücklich einen praktikablen Standard für die Kabinenluft, wie sie dem Handelsblatt mitteilt: „Dies beinhaltet die Beschreibung von Messmethoden, die zu messenden chemischen Verbindungen sowie deren Grenzwerte.“ Der vorliegende Entwurf einer Norm müsse „nachgeschärft“ werden. In der Einleitung des derzeit diskutierten Entwurfs heißt es übrigens: „Die in Flugzeugmotoren verwendeten Öle…und die entstehenden ultrafeinen Partikel können den Transport von Giften ins Gehirn erhöhen.“

Vom „aerotoxic syndrome“ sprechen Wissenschaftler wie der Australier Chris Winder: „Eine wachsende Zahl von fliegendem Personal entwickelt als Folge kurz- und langfristiger Exposition Symptome wie Schwindel, Müdigkeit, Übelkeit, Orientierungslosigkeit, Konfusion, Sehstörungen, Lethargie und Muskelstarre.“ Nervengifte seien ein „großes Thema der Flugsicherheit“, insbesondere wenn Menschen häufig den Giften ausgesetzt seien.

Das Letzte, was man sich in einem Flugzeug wünscht, sind Piloten, die Sehstörungen haben oder die Orientierung verlieren. Dazu komme es immer wieder, stellt Susan Michaelis in einem Artikel für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fest. Michaelis, die wie Anderson die ETF vertritt, hat mehrere Hundert Fälle von Piloten eines Regionalflugzeugs, des Bae146/Avro-RJ, untersucht: „Knapp zwei Drittel haben über unmittelbare Beschwerden, 30 von 274 Bae146/Avro-RJ-Piloten haben über mittel- und langfristige Gesundheitseffekte von Luftbelastung berichtet, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Störungen des Nervensystems oder Verdauungstrakts.“

Es fällt schwer zu verstehen, warum Industrie und Airlines das Problem nicht durch konstruktive Änderungen im wahrsten Sinne des Wortes aus der Luft schaffen. Sind es die Kosten? Schließlich gibt es Alternativen zur Zapfluft, im Dreamliner von Boeing kommt die Luftversorgung nicht aus den Motoren. Und Zulieferer arbeiten an einer Kombination von Aktivkohlefiltern und Katalysatoren, die Abhilfe versprechen.

„Du sollst keine Luft für die Kabine aus Motoren abzapfen“

Weder Boeing noch Airbus reden gern über das Thema. Boeing will auch auf Nachfrage nicht sagen, ob geplant ist, das System ohne „bleed air“ künftig allgemein zu verbauen und ob es teurer ist. Airbus weigert sich, dazu Stellung zu nehmen, und sagt lediglich: „Airbus verfolgt technische Fortschritte bei allen Themen, die mit Kabinenluft zu tun haben.“ Lufthansa sagt klipp und klar: „Eine Abkehr von Zapfluft halten wir nicht für sinnvoll.“

Der französische Ingenieur Amine Mehel von der Ingenieurschule Estaca vermutet, die Lernkurve der Luftfahrtbranche sei einfach zu flach: „Die Autoindustrie hat verstanden, dass Luftqualität im Innenraum ein großes Thema für die Verbraucher ist, und finanziert viele Studien darüber.“ Die Flugzeughersteller sähen das anders.

Im September will der CEN-Ausschuss, den Edery leitet, den Entwurf ausformuliert haben. So wird es vielleicht demnächst eine Norm geben, die kleine Fortschritte, aber keine Lösung bringt. Die Experten werden weiter debattieren, die Piloten und Passagiere weiter potenziell belastete Luft einatmen.

„Dabei ist der technische Imperativ doch eigentlich ganz einfach“, sagt Expertin Anderson: „Du sollst keine Luft für die Kabine aus Motoren abzapfen, und wenn du es doch tust, dann sollst du zumindest einen Filter zwischen Motor und Mensch schalten.“


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