„Geht nicht mal eben schnell“ - Militärexperte erklärt den Bluff hinter Selenskyjs Gegenschlag-Ansage

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war offenbar über Pläne zum Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines informiert. Dies berichtet das "Wall Street Journal"<span class="copyright">Foto: IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Pool /Ukrainian Presidentia</span>
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war offenbar über Pläne zum Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines informiert. Dies berichtet das "Wall Street Journal"Foto: IMAGO/ZUMA Wire/IMAGO/Pool /Ukrainian Presidentia

Nach den schweren Angriffen Russlands auf die Ukraine droht Selenskyj mit einem Vergeltungsschlag. Militärexperte Ralph Thiele hält es für unwahrscheinlich, dass der Präsident seine Ansage wahrmachen wird. Wenn doch, könnte das zur Gefahr für sein Land werden.

FOCUS online: Herr Thiele, Russland überzieht die Ukraine gerade mit den schwersten Luftangriffen seit Beginn des Krieges. Welche Folgen hat so eine verheerende Attacke für die militärische und zivile Lage in der Ukraine?

Ralph Thiele: Da die schweren Attacken Russlands vor allem auf die Energieinfrastruktur zielen, ist die Stromversorgung der Ukraine mit Blick auf den kommenden Winter massiv gefährdet. Im Moment könnten laut Berechnungen nur für fünf bis sieben Stunden Strom in das Land geliefert werden, das ist nicht viel. Und nicht nur die Bevölkerung und die Wirtschaft brauchen den Strom dringend, sondern auch die Streitkräfte.

Ex-Oberst: „Wir erleben ein permanentes Hocheskalieren von beiden Seiten“

Hat der Krieg mit diesen schweren Angriffen Ihrer Meinung nach eine neue Ebene erreicht?

Thiele: Dieser Krieg erreicht ständig neue Ebenen, er breitet sich immer weiter aus. Wir erleben gerade ein permanentes Hocheskalieren von beiden Seiten mit ungewissem Ausgang.

In einer Ansprache hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj einen Vergeltungsschlag für die schweren Luftangriffe angekündigt. Er sprach auch von westlichen F-16-Kampfjets, mit denen er Russland nun angreifen will.

Thiele: Ich wage zu bezweifeln, dass das im großen Stil passieren wird. De facto sind gerade mal zehn von diesen Kampfjets verfügbar und es gibt dazu nur sechs ausgebildete Piloten. Die ukrainischen Piloten müssen also erst einmal angelernt werden. Zum Vergleich: Deutsche erfahrene Piloten haben ungefähr 800 Flugstunden absolviert, amerikanische sogar bis zu 15.000. Das geht nicht mal eben schnell. Außerdem steckt auch bei dem Einsatz der Kampfjets ein komplexes System dahinter, das organisiert und geleitet werden muss.

Was wird Selenskyj Ihrer Meinung nach stattdessen machen?

Thiele: Ich rechne damit, dass Selenskyj vor allem mit Gleitbomben zurückschlagen wird. Diese sind sehr klein und dadurch auf dem Radar kaum auszumachen. Man kann sie also sehr schwer abwehren. Die Ukraine wird die russischen Gasinfrastrukturen anvisieren, dazu kommen Kasernen und Flugplätze. Zeitgleich bröckelt es aber an der ukrainischen Front. Momentan sieht es so aus, als ob das riskante Unternehmen eines Vergeltungsschlags eher zu Ungunsten der Ukraine ausgeht.

„Solche Aktionen machen Putin nur wütender“

Die Auswirkungen eines solchen Racheakts sind also sogar eher negativ für das Land?

Thiele: Ja. Solche Aktionen machen den russischen Präsidenten Wladimir Putin nur wütender. Davon spüren wir in Deutschland auch etwas. Denn Putin sieht hier einen Angriff des gesamten Westens auf Russland. Er bestraft Selenskyj und lässt Deutschland teilhaben. Meine große Sorge ist, dass auch die deutsche Bevölkerung irgendwann spüren wird, dass wir durchaus kriegsbeteiligt sind.

Inwiefern?

Thiele: Deutschland ist der Hauptunterstützer der Ukraine nach den USA. Und außerdem gibt es auch einige Stützpunkte der US-Militärbasen hier. Mit einem Hocheskalieren des Russland-Ukraine-Kriegs steigt auch in Deutschland die Konfliktgefahr.

Es kann niemand ausschließen, dass nicht doch irgendwann russische Raketen und Bomben gen Deutschland fliegen. Viele Politiker und Experten wähnen sich immer noch in Sicherheit und sagen: „Da passiert schon nichts“.  Ich warne hier aber vor zu viel Gelassenheit. Denn: Auch wir sind längst ein Teil des Konflikts.