Geld für ausgeschaltete Kraftwerke - Ein Vergleich hilft, die große Strommarkt-Revolution zu verstehen

Bundeswirtschaftsminister Robert Habek (Grüne) nimmt ein modernisiertes Umspannwerk in Lingen in Betrieb, mit dem Netzschwankungen duch die Einspeisung erneuerbarer Energien ausgeglichen werden sollen.<span class="copyright">Guido Kirchner/dpa</span>
Bundeswirtschaftsminister Robert Habek (Grüne) nimmt ein modernisiertes Umspannwerk in Lingen in Betrieb, mit dem Netzschwankungen duch die Einspeisung erneuerbarer Energien ausgeglichen werden sollen.Guido Kirchner/dpa

Damit Strom ohne Atom und Kohle auch fließt, wenn die berüchtigte Dunkelflaute eintritt, plant die Bundesregierung einen hybriden Kapazitätsmarkt. Das Modell ist vor allem wegen seiner Komplexität umstritten. Ein Fußball-Vergleich hilft.

Stellen Sie sich vor, Sie organisieren ein Bundesliga-Spiel. 80.000 Fans passen in Ihr Stadion und genau so viele Karten haben Sie auch verkauft. All die Fans wollen etwas essen und trinken, aber wie viel genau? Wie viele Liter Bier sollte jeder Verkaufsstand vorhalten, wie viele Bratwürste? Und brauchen Sie auf der Haupttribüne mehr als auf der Gegentribüne, weil dort vielleicht die hungrigeren Fans sitzen?

Der Kohle-Ausstieg naht: Wie die Ampel den Strommarkt umkrempeln will

Vor genau so einem Problem steht derzeit auch die Bundesregierung mit Blick auf den deutschen Strommarkt. Der Ausstieg aus der Atomenergie ist schon vollzogen, der aus der Kohle steht bevor. Beide Erzeugungsarten hatten aber bisher den großen Vorteil, dass sie leicht steuerbar waren. Steigt der Stromverbrauch in Deutschland in dieser Stunde sprunghaft an, lassen sich entsprechend Kohlekraftwerke hochfahren, um dem Ansturm gerecht zu werden. Mit Solar und Windkraft als dominierende Stromerzeuger wird das in Zukunft schwerer, denn diese produzieren Energie nur in Abhängigkeit von den aktuellen Wetterbedingungen. Bei Nacht lassen sich keine Solaranlagen hochfahren, bei schwachem Wind keine Windräder.

In der Theorie ist das kein großes Problem, es muss dann halt andere Modelle geben, die bei Not schnell einspringen können. Gaskraftwerke, am besten solche, die künftig auch mit klimafreundlichem grünen Wasserstoff betrieben werden können, wären eine Möglichkeit. Der Wasserstoff wiederum könnte mit erneuerbaren Energien in den Zeiten produziert werden, wenn ein Überschuss an solchem Strom herrscht. Andere Speicherkraftwerke sind eine Option, auch private Solaranlagen oder Hausspeicher ließen sich zum Ausgleich von Verbrauchsschwankungen nutzen.

Allerdings stellt sich hier ein Problem für die Kraftwerksbetreiber. Unter Normalbedingungen würde ihr teures Gaskraftwerk – der Bau allein kostet rund eine Milliarde Euro – aus bleiben und nur selten in Notsituationen angeschaltet werden. Dafür muss Personal vorgehalten, die Maschinen gewartet und das Gas gelagert werden. Hohen Fixkosten stehen dann nur mickrige Einnahmen gegenüber.

Unter diesem Umständen würde kein vernünftiges Unternehmen ein Gaskraftwerk betreiben wollen, geschweige denn ein neues bauen. Das Beratungsunternehmen Aurora Energy Research hat ausgerechnet, dass ein Gaskraftwerk in Zukunft wohl nur 867 Stunden pro Jahr laufen müsste. Das entspricht einer Auslastung von gerade einmal 10 Prozent.

So funktioniert ein Kapazitätsmarkt

Die Lösung dieses Problems nennt sich Kapazitätsmarkt. Dabei bekommen Kraftwerksbetreiber eine bestimmte Summe für jede Kilowattstunde, die sie mit ihrem Kraftwerk theoretisch produzieren könnten. Die genaue Höhe sollte so liegen, dass die Fixkosten eines Kraftwerks gedeckt sind und darüber hinaus eine kleine Marge für den Betreiber übrig bleibt.

In Spitzenlastzeiten kann er dann das Kraftwerk hochfahren und den produzierten Strom ganz normal an der Börse verkaufen. Da zu diesen Zeiten die Nachfrage hoch ist, dürfte auch der Preis und damit seine Marge zufriedenstellend sein. Finanziert würde dieser Kapazitätsmarkt vom Staat, indirekt aber wohl über den Strompreis für alle Verbraucher, also eine Umlage.

Womit wir wieder bei der Fußball-Analogie wären, denn so wie ein Stadionbetreiber nur aus Erfahrung grob abschätzen kann, wie viele Bratwürste und Biere bei welchem Spiel auf welchen Tribünen und in welchen Blöcken verzehrt werden und entsprechend vorgehalten werden müssen, damit kein Fan hungrig oder durstig bleibt.

Gleiches Spiel: So muss auch die Bundesregierung abschätzen, wie viele Kapazitäten überhaupt vorgehalten werden müssen, um Spitzenlastzeiten, in denen die erneuerbaren Energien nicht genügend Strom liefern. Die Schätzungen dafür laufen weit auseinander. Die vier Netzbetreiber Amprion, Tennet, 50Hertz und TransnetBW veröffentlichten im Mai eine Studie, in der sie mit einem benötigten Neubau von 20 bis 25 Gigawatt rechnen. Das Bundeswirtschaftsministerium kalkuliert mit einer ähnlichen Größe von 17 bis 21 Gigawatt.

Wie viel Energie-Reserven braucht Deutschland?

Die einfachste Möglichkeit für einen funktionierenden Kapazitätsmarkt wäre jetzt, den erforderlichen Bedarf so genau wie möglich zu schätzen, noch ein Puffer von wenigen Gigawatt obendrauf zu setzen und dann entsprechende Kraftwerkskapazitäten auszuschreiben. Energie-Unternehmen könnten sich dann entsprechende Teile des Kapazitätsmarktes sichern, müssten sich verpflichten, die notwendigen Kraftwerke bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bauen und einsatzbereit zu halten.

Ein solcher Mechanismus wird als zentraler Kapazitätsmarkt bezeichnet, bei dem eben zentral vorgeschrieben wird, wie viele Stromkapazitäten wo vorgehalten werden. Im Fußballbeispiel würde in diesem Fall der Stadionbetreiber jedem Stand sagen, wie viele Bier und Bratwürste er vorher einkaufen soll, beruhend auf den Erfahrungen vergangener Spiele.

Die Bundesregierung macht auch genau das. Im Frühjahr wurde beschlossen, dass Kapazitäten für Gaskraftwerke in drei Tranchen in den kommenden Jahren ausgeschrieben werden sollen. Der Bau der ersten Anlagen könnte 2026 beginnen, ab 2028 würde dann der Kapazitätsmarkt real starten. Aber: Die Bundesregierung schreibt nicht den kompletten Mehrbedarf an Kapazitäten so aus, sondern wahrscheinlich nur 10 Gigawatt.

Teil des Marktes soll dezentral organisiert werden

Der Grund ist, dass so eine zentrale Steuerung leicht daneben liegen kann. Im Stadion-Beispiel weiß doch ein Standbetreiber im Block 23 am besten, wie viele Becher und Pommes er an die dortigen Fans in den letzten Jahren verkauft hat und kann passgenauer einkaufen. Er würde auch als erstes merken, wenn Fans sich plötzlich immer häufiger noch Knabberkram selbst mitbringen oder von teurem Bier auf günstigeres Wasser wechseln und entsprechend weniger am Stand ausgeben.

Das Gleiche gilt auch für den Strommarkt, argumentieren einige Experten. Ein regionaler oder lokaler Stromanbieter hat den besseren Überblick darüber, wie viele seiner Kunden etwa immer stromsparender leben, sich eigene Photovoltaikanlagen aufs Dach setzen oder statt mit dem Benziner mit Elektroautos herumfahren.

Deswegen will die Bundesregierung den Kapazitätsmarkt um eine dezentrale Komponente erweitern. Jeder Stromerzeuger könnte sich dann dafür bewerben und seine Kapazitäten zur Verfügung stellen. Über eine intelligente Smart-Meter-Steuerung ließen sich diese dann entsprechend ins Netz einspeisen. Die Bundesregierung müsste dann nur noch koordinieren, dass es in jedem Landesteil zumindest ein bestimmtes Mindestmaß an Kapazitäten gibt.

Der zentral gesteuerte Teil des Kapazitätsmarktes würde dann nur für Notfälle zur Verfügung stehen, wenn die auf dem Markt bereitgestellten Kapazitäten nicht ausreichen – ähnlich einem zentralen Lagerraum im Fußballstadion, wo einige Bierfässer bereitstehen, falls einem Stand die Getränke ausgehen.

Eine solche Mischung aus zentralem und dezentralem Kapazitätsmarkt nennt sich ein „hybrider Kapazitätsmarkt“ und kommt weltweit nicht so oft vor. Bisher nutzen Staaten entweder rein die zentrale Variante, etwa Großbritannien, oder eine rein dezentrale Variante wie einige US-Bundesstaaten. Hybride Lösungen gibt es aktuell aber zum Beispiel in Frankreich und Italien. In beiden Ländern gilt, dass die Kapazitäten bei Auktionen versteigert werden, damit der Staat so wenig Geld wie möglich dafür ausgeben muss.

Pläne der Bundesregierung sind noch vage

Verschiedene Mechanismen müssen eingebaut werden, um zu verhindern, dass es am Ende zu wenige Kapazitäten im Markt gibt. Die zentral organisierte Reserve ist ein Teil davon. Großbritannien etwa organisiert zwei verschiedene Auktionen. Vier Jahre vor Start der jeweiligen Kapazitäten werden diese für 15 Jahre ausgeschrieben. Jedes Jahr gibt es aber noch kurzfristige Auktionen für einjährige Kapazitäten, an denen sich meist Betreiber schon bestehender Kraftwerke beteiligen.

Eine weitere Möglichkeit wäre, Betreiber, die die Kapazitäten besonders gut im Vorfeld abgeschätzt haben, etwa durch höhere Vergütungen zu belohnen und solche, die stark daneben liegen, geringer zu entlohnen. Sollte ein Kraftwerk oder eine Privatperson im versprochenen Zeitraum keinen Strom liefern könnten, würden Strafzahlungen fällig.

Unklar ist noch, wie der dezentrale Teil des Kapazitätsmarktes in Deutschland genau aussehen soll. „Die Pläne des Bundeswirtschaftsministeriums sind da noch relativ vage“, sagt Dominik Möst, Professor für Energiewirtschaft an der TU Dresden beim Blick auf das Konzeptpapier. Auf den ersten Blick ändert sich gegenüber dem heutigen Stand wenig.

Schon jetzt gibt es in Deutschland hunderte sogenannter Bilanzkreise, also regionaler Zonen, in denen je ein Verantwortlicher für die Versorgungssicherheit aller Stromverbraucher zuständig ist. Dieser muss auch heute schon den Verbrauch abschätzen und Kapazitäten entsprechend zur Verfügung stellen und wird für genaue Schätzungen belohnt und für Abweichungen bestraft, indem er dann teure Ausgleichsenergie von außerhalb einkaufen muss.

Die Bundesregierung muss also in naher Zukunft noch definieren, was sich gegenüber diesem Zustand ändern soll. Geklärt werden muss, wer überhaupt Energiekapazitäten anbieten darf, in welcher Art und in welcher Größenordnung. Die generelle Kritik, dass ein hybrider Kapazitätsmarkt zu kompliziert sei, teilt Möst aber nicht: „Die Komplexität wird an den Details der Ausgestaltung hängen“, sagt er. Problematisch wird die Umstellung in Deutschland nur durch die Geschwindigkeit: „Durch den nahenden Kohleausstieg brauchen wir jetzt sehr schnell alternative, leicht steuerbare Kapazitäten“, sagt Möst.

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