Gerald Hüther im Gespräch - Star-Hirnforscher: „Schon Kinder unterdrücken ihre Bedürfnisse – das macht krank“
Warum schafft es selbst das beste Gesundheitssystem nicht, uns wirklich gesünder zu machen? Der renommierte Neurobiologe Gerald Hüther ist der Frage auf den Grund gegangen – und hat die Antwort in der Beschaffenheit unseres Gehirns gefunden.
Wenn ein Buch von der Kraft der Selbstheilung, von Selbstliebe und von einer untrennbaren Verbindung von Körper und Geist handelt, würden es die meisten wohl immer noch in einem Regal der Esoterik-Abteilung vermuten. Doch Gerald Hüthers Buch „ Lieblosigkeit macht krank“ (Herder Verlag) hat nicht viel mit Esoterik zu tun. Der Professor für Neurobiologie gehört zu den bekanntesten Hirnforschern des Landes. Das Buch bezeichnet er als das wichtigste, das er je geschrieben hat.
Denn es geht um unsere Gesundheit und die Frage, warum selbst das beste Gesundheitssystem der Welt es nicht schafft, uns wirklich gesünder zu machen. Immer mehr Menschen erkranken, sowohl seelisch als auch körperlich. Die Zahl der Menschen, die unter sogenannten Zivilisationserkrankungen leiden, steigt seit Jahren rasant an und die Medizin kann häufig nur Symptome lindern, nicht jedoch die Patienten heilen.
Selbstheilungskräfte außer Kraft gesetzt
Das große Problem sieht Gerald Hüther in unserer Lieblosigkeit. Unsere Selbstheilungsfähigkeit wird dadurch blockiert, dass wir lieblos mit uns selbst und auch mit anderen umgehen, glaubt der Hirnforscher. Und er erläutert dies anhand der Funktionsweise unseres Gehirns, das, wie er sagt, untrennbar mit unserem Körper verbunden ist. „Ich habe sehr früh angefangen, mich mit den Interaktionen zwischen dem Gehirn und dem Körper zu befassen“, sagt Gerald Hüther im Gespräch mit FOCUS Online.
„Da wird schnell deutlich, dass wir im Gehirn über Netzwerke verfügen, mit deren Hilfe die großen integrativen Regelsysteme für den Körper gelenkt und koordiniert werden: Das Immunsystem, das Hormonsystem, das Herz-Keislauf-System und auch das vegetative Nervensystem werden von da oben angesteuert und wenn diese Bereiche ihre Arbeit in Ruhe machen könnten, dann würden sie auch aufpassen, dass im Körper alles klappt. Es ist aber leider so, dass sehr viele Menschen einen Lebensstil verfolgen und auch mit bestimmten Vorstellungen unterwegs sind, die so viel Unruhe in diese Abläufe dort oben bringen, dass die Selbstheilungskräfte dann gewissermaßen außer Kraft gesetzt werden.“
Jeder lebendige Organismus ist fähig, sich selbst zu heilen
Selbstheilung – das ist für viele Menschen immer noch ein abstrakter Begriff. Doch Hüther kann es schnell erklären: „Alles, was lebendig ist, ist auch in der Lage, sich zu reparieren – das nennt man Selbstheilung. Und natürlich kann das auch unser Körper“, erklärt der Neurobiologe.
„Wenn wir uns den Arm gebrochen haben, dann heilt unser Körper den Bruch. Der Arzt ist nur derjenige, der die günstigen Rahmenbedingungen schafft, damit der Knochen an der richtigen Stelle zusammenwachsen kann.“ Der Heilungsprozess ist also ein Selbstheilungsprozess und der Arzt schafft nur die Voraussetzung dafür, dass das möglichst gut gelingt. Die Selbstheilungsprozesse des Körpers finden fortwährend statt, meist ohne dass wir etwas davon mitbekommen. Wenn Körper und Hirn ungestört arbeiten können, bleibt der Mensch gesund, so die Theorie.
Hüther: Wie Lieblosigkeit uns krank macht
Es gibt jedoch einen großen Störfaktor, etwas, das uns auf Dauer krank machen kann. Es ist das, was Gerald Hüther als Lieblosigkeit beschreibt. Wenn wir lieblos mit uns selbst umgehen, dann ignorieren und unterdrücken wir die wichtigen Signale, die unser Körper uns sendet.
Wir bleiben wach, obwohl wir müde sind, weil wir eine Deadline haben. Wir sitzen stundenlang am Schreibtisch, obwohl unser Körper nach Bewegung schreit. Wir ernähren uns, ohne in unseren Körper hineinzuspüren und uns zu fragen, ob diese Lebensmittel ihm guttun. Wir haben verlernt, angemessen auf die Signale zu reagieren, die unser Körper uns sendet und so lassen wir ihn oft mit seinen Problemen allein. Wir merken es nicht einmal. Erst dann, wenn unser Körper krank wird, sind wir bereit zu handeln.
Gerald Hüther sagt, dass viele Menschen inzwischen die Verbindung zu ihrer eigenen Lebendigkeit verloren haben. Doch woran liegt das?
Schon kleine Kinder lernen, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken
„Das Problem ist, dass wir fester mit unseren Vorstellungen, worauf es im Leben ankommt, verbunden sind, als mit uns selbst und unserer eigenen Lebendigkeit“, sagt der Hirnforscher. „Wir sind sehr im Außen und richten uns nach dem, was da von uns verlangt wird. Das müssen wir auch, weil wir sonst in dieser Gesellschaft gar keinen Platz finden. Und dabei lernen wir schon als Kinder, unsere Bedürfnisse zu unterdrücken und nehmen die Vorstellung, die wir verfolgen, für wichtiger als die aus dem eigenen Körper kommenden Signale.“
Diese Vorstellungen, von denen Hüther spricht, sind offenbar so stark, dass wir unser Leben nach ihnen ausrichten – anstatt so zu leben, wie es für uns gesund wäre. Der Grund für unser Verhalten liegt in unserer Natur. Wir Menschen sind zutiefst soziale Wesen und könnten ohne andere Menschen gar nicht leben. Von den anderen lernen wir laufen, sprechen, lesen, Fahrradfahren – einfach alles.
Wir sind schlicht auf andere Menschen angewiesen: „Diese unglaubliche Verbundenheit mit anderen als soziale Wesen äußert sich ja auch in dem Grundbedürfnis, mit dem wir schon auf die Welt kommen, denn wir waren ja bereits neun Monate lang sehr eng mit einem anderen Menschen verbunden. Deshalb suchen alle Neugeborenen diese Nähe und Zugehörigkeit“, beschreibt Gerald Hüther.
Dazugehören um jeden Preis
Um dieses Bedürfnis nach Verbundenheit stillen zu können, sind wir bereit, große Opfer zu bringen. Und dazu gehört auch, dass wir unsere eigene Gesundheit in Gefahr bringen – nur um nicht ausgeschlossen zu werden: „Wenn wir die Zugehörigkeit aber nur bekommen, indem wir uns die Denkweise der anderen zu eigen machen und ihnen gehorchen oder das tun, was sie von uns erwarten, sind wir bereit, das alles zu tun, nur um deren Anerkennung zu bekommen. Mit dem Ergebnis, dass wir uns von unserer eigenen Lebendigkeit immer mehr entfernen, unsere lebendigen Bedürfnisse unterdrücken und sogar lernen, die Signale aus unserem eigenen Körper gar nicht mehr wahrzunehmen.“
Die Erklärung für dieses Verhalten lässt sich in der Struktur und Funktionsweise unseres Gehirns finden. Fühlen wir uns von anderen nicht beachtet oder gar abgelehnt, werden im Gehirn die gleichen Netzwerke aktiviert, die auch durch körperliche Schmerzen erregt werden: „Dieses sehr schmerzhafte Gefühl entsteht im Gehirn immer dann, wenn wir mit Geschehnissen konfrontiert werden, die unsere beiden psychischen Grundbedürfnisse verletzten. Das ist zum einen das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Verbundenheit und zum anderen das nach Autonomie und Freiheit. Sie sind genauso stark und gehören ebenso zu unserer Natur wie Hunger und Durst, Beanspruchung und Erholung.“
Überwinden lässt sich dieser Schmerz, indem wir meist schon als kleine Kinder lernen, das zu tun, was von uns erwartet wird und wir uns die Vorstellungen derjenigen zu eigen machen, deren Anerkennung und Wertschätzung uns so wichtig ist, weil wir so gern mit ihnen verbunden wären. Je nachdem, wo wir aufwachsen, unterscheiden sich diese Vorstellungen, worauf es im Leben ankommt.
Erfahrungen formen unser Gehirn
Besonders beliebte Vorstellungen sind in unserer Gesellschaft zum Beispiel, dass man Karriere machen muss. Dass man reich werden muss. Dass man durch seinen Erfolg möglichst viel Anerkennung von anderen bekommen muss.
Wir haben also fast alle schon sehr früh in unserem Leben die Erfahrung gemacht, dass wir uns anpassen, unsere lebendigen Bedürfnisse unterdrücken und die Vorstellungen der anderen Menschen übernehmen müssen, um von der Gemeinschaft nicht ausgeschlossen zu werden – alleingelassen hätten wir nicht überleben können.
Diese Erfahrungen haben Spuren in unserem Gehirn hinterlassen: Sie haben unser Gehirn auf eine Weise geformt, die es uns nun ermöglicht, genau diese Vorstellungen zu verwirklichen. Sie bestimmen unser Denken, Fühlen und Handeln. Mit unseren seelischen Grundbedürfnissen sind sie jedoch meist nicht vereinbar. Das erzeugt eine innere Unruhe und bringt auch die für die Regulation unseres Körpers zuständigen Vernetzungen durcheinander. Und dann funktionieren auch die von Gehirn gesteuerten Selbstheilungskräfte nicht mehr gut genug. Und wenn wir dann auch noch den Bezug zu unserem lebendigen Körper so lange unterdrückt haben, dass wir seine Signale nicht mehr spüren, können wir nur noch über kurz oder lang an irgendetwas erkranken.
Gerald Hüther macht es in seinem Buch ganz deutlich: „Krank werden wir nicht davon, dass uns von außen etwas Krankmachendes überfällt oder ereilt. Krank werden wir deshalb, weil wir das, was uns krank macht, für etwas halten, das uns glücklich machen soll. Und dafür sind wir bereit und haben leider auch allzu gut gelernt, völlig lieblos mit uns selbst und mit anderen umzugehen.“
Das muss man erstmal sacken lassen. Wer sich hier ertappt fühlt; wer spürt, dass der Hirnforscher hier genau den Kern des Problems erkannt hat, für den gibt es allerdings Hoffnung.
Was wir tun können, um gesund zu bleiben
Die gute Nachricht ist nämlich, dass wir Menschen über ein sehr plastisches Gehirn verfügen, das das ganze Leben lang lernfähig bleibt und wandelbar ist. „Man kann seine innere Einstellung zum Leben und zu sich selbst bis zum letzten Lebenstag noch überdenken und ändern“, sagt Gerald Hüther.
Sein Vorschlag ist eine einfache Handlungsempfehlung, die doch weitreichende, positive Konsequenzen haben könnte: Einfach ein bisschen liebevoller zu sich selbst sein.
„Wo immer ein Mensch anfängt, wieder ein bisschen liebevoller mit sich selbst umzugehen, wird er merken, dass er sich erstens wieder mehr mit sich selbst verbindet. Und zweitens, wieder zum Gestalter seines eigenen Lebens wird“, sagt der Neurobiologe. Wenn man sich wieder mit seiner eigenen Lebendigkeit verbindet und wieder zum Gestalter seines Lebens wird, dann sind laut Hüther auch die beiden wichtigen Grundbedürfnisse gestillt: das nach Verbundenheit und das nach Autonomie.
„Und dann kommen die Menschen ganz automatisch wieder in ihre Kraft. Dann sind sie nicht länger Bedürftige, die darunter leiden, dass ihre Bedürfnisse nicht gestillt werden. Bedürftige müssen immer von anderen etwas bekommen. Sie sind ständig auf der Suche, weil ihnen ja etwas fehlt. Wenn man aber in diese eigene innere Kraft gefunden hat, zum Beispiel, weil man angefangen hat, liebevoll mit sich selbst umzugehen, verlässt man diesen Pfad der Bedürftigkeit und wird jemand, der aus seiner Kraft heraus anderen etwas schenken kann. Und dann sind solche Menschen nicht nur liebevoller zu sich selbst und mögen sich selbst mehr, sondern sie sind auch liebevoller zu anderen und wahrscheinlich auch zu allem, was lebt. Es ist eine Verwandlung, die jeder Mensch über diesen Weg offenbar relativ leicht vollziehen kann.“
Für Menschen, die sich dazu entschließen, diesen Weg zu gehen und die versuchen wollen, liebevoller mit sich selbst umzugehen, gibt es eine Initiative, die Hüther gemeinsam mit weiteren Unterstützern in Gang gebracht hat. Auf der Seite Liebevoll.jetzt können Menschen sich miteinander vernetzen, sich informieren und austauschen. Es ist eine Plattform, die dazu einlädt, sich gemeinsam mit anderen auf den Weg zu machen und die Erfahrung zu teilen, dass es auch in einer lieblosen Welt möglich ist, liebevoll unterwegs zu sein und seine Freude am Leben wiederzuentdecken.
„Wir dürfen gespannt sein, ob solche Menschen dann auch seltener krank und rascher wieder gesund werden", sagt Gerald Hüther. "Durch den Einsatz doppelt-blinder, Placebo-kontrollierter Studien wird sich das zum Glück nicht nachweisen lassen.“