Geringes Selbstwertgefühl - Zwischen Leidenschaft und Zwang: Wann wird Sport zur Muskelsucht?
Sport stärkt Körper und Geist, doch manchmal kippt die Balance: Muskelsucht, eine Form der Körperbildstörung, wird zunehmend zum Problem – angetrieben von sozialen Idealen und innerem Druck. Personal-Trainer Michèl Gleich erklärt die Ursachen und welche Wege aus der Sucht führen können.
Jüngst hat der ehemalige Fußballprofi Bixente Lizarazu in einem Interview offengelegt, dass er an Muskelsucht leidet. Seine Offenheit rückt ein bislang oft unterschätztes Thema ins Rampenlicht: die Dysmorphophobie, die speziell auf den Muskelaufbau fokussiert ist.
Wie Lizarazu erklärte, verlor er die Kontrolle über sein Training, da er sich nie „genügend“ fühlte. Dieses Problem betrifft nicht nur prominente Sportler, sondern immer mehr Menschen in Deutschland.
Was ist Muskelsucht?
Muskelsucht, auch als Muskeldysmorphie bekannt, ist eine psychische Erkrankung, bei der Betroffene eine verzerrte Wahrnehmung ihres Körpers haben. Sie empfinden sich trotz intensiven Trainings und sichtbarer Muskulatur als zu „schmächtig“ oder ungenügend. Besonders Männer sind davon betroffen, da gesellschaftliche Ideale oft übertriebene Muskelmasse glorifizieren (UGB Gesundheitsberatung).
Die Krankheit wird oft durch gesellschaftliche Schönheitsideale begünstigt. Studien zeigen, dass bereits Kinder hypermuskulöse Körper als Ideal empfinden, beeinflusst durch Superheldenfiguren oder Idole wie Arnold Schwarzenegger. Solche medialen Vorbilder fördern das Streben nach unrealistischen Körperidealen.
Die Gefahren von Muskelsucht
Neben psychischen Belastungen wie geringem Selbstwertgefühl birgt die Erkrankung körperliche Risiken. Viele Betroffene greifen zu Dopingmitteln wie Steroiden, um ihren Körper schneller zu transformieren. Laut Schätzungen konsumieren bis zu 13 Prozent der deutschen Fitnessstudiomitglieder anabole Steroide – mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und hormonellen Dysbalancen.
Therapieansätze: Wege aus der Sucht
Die Behandlung der Muskeldysmorphie ist komplex und erfordert ein multiprofessionelles Team. Therapeutische Ansätze umfassen:
Körperpsychotherapie: Übungen wie die Spiegelexposition helfen, den Körper differenzierter wahrzunehmen.
Psychologische Betreuung: Hier liegt der Fokus auf dem Aufbau eines gesunden Selbstwertgefühls und der Emotionsregulation.
Ernährungsberatung: Striktes, zwanghaftes Essverhalten wird durch genussorientierte, flexible Ansätze ersetzt.
Prävention: Ein gesellschaftlicher und individueller Ansatz
Um der Muskelsucht entgegenzuwirken, ist Prävention von zentraler Bedeutung. Dabei müssen sowohl gesellschaftliche Strukturen hinterfragt als auch individuelle Verhaltensweisen gefördert werden. Prävention kann in folgenden Bereichen ansetzen:
Aufklärung und Bildung
Bereits in Schulen sollte ein gesundes Körperbild vermittelt werden. Workshops und Unterrichtseinheiten, die unrealistische Schönheitsideale kritisch beleuchten, können Kinder und Jugendliche sensibilisieren. Lehrkräfte und Eltern sollten geschult werden, erste Anzeichen einer Dysmorphophobie zu erkennen.
Beispiele für Ansätze
Medienkompetenztraining: Schüler lernen, wie Bilder in sozialen Medien oder Werbung bearbeitet werden und dass viele Darstellungen keinen realistischen Körper abbilden.
Gender-Spezifische Aufklärung: Jungen, die stärker durch Muskelideale beeinflusst werden, sollten gezielt angesprochen werden, um stereotype Vorstellungen zu hinterfragen
Medien und Werbung in die Verantwortung nehmen
Medien und die Fitnessindustrie tragen eine erhebliche Mitverantwortung für den zunehmenden Druck auf Individuen. Präventive Maßnahmen könnten wie folgt aussehen:
Regulierung von Inhalten: Werbung, die ungesunde Körperideale propagiert, sollte strenger reguliert werden, wie bereits in einigen Ländern wie Frankreich durch das Gesetz gegen retuschierte Körperbilder geschehen.
Prominente Vorbilder: Influencer, Prominente und Sportler können durch authentische Darstellungen ihres Alltags und ihrer Körper einen Gegenpol zu überhöhten Idealen schaffen. Initiativen wie die Kampagne „Body Positivity“ zeigen bereits Wirkung
Förderung ganzheitlicher Fitnesskonzepte
In Fitnessstudios und Sportvereinen sollte die Botschaft klar vermittelt werden, dass körperliche Aktivität primär der Gesundheit und dem Wohlbefinden dient, nicht der Erreichung eines idealisierten Körperbilds.
Umsetzungsmöglichkeiten:
Trainerschulungen: Trainer sollten in der Förderung eines positiven Körperbildes geschult werden, um nicht unbewusst unrealistische Erwartungen zu verstärken.
Ganzheitliche Trainingsprogramme: Fitnessangebote könnten stärker auf die Balance zwischen körperlicher, mentaler und emotionaler Gesundheit ausgerichtet werden. Yoga, Pilates und Achtsamkeitstraining können als Ergänzungen zu Kraftsport integriert werden.
Ein durchdachtes Zusammenspiel aus individueller Unterstützung, gesellschaftlichem Wandel und politischem Engagement ist entscheidend, um die Wurzeln der Muskelsucht langfristig anzugehen und Betroffenen eine Rückkehr zu einem gesunden Selbstbild zu ermöglichen.
Als jemand, der selbst lange Zeit im Leistungssport aktiv war, kenne ich die innere Stimme, die sagt: „Das reicht noch nicht. Noch mehr geht!“ Doch ich habe auch gelernt, dass es eine Stärke ist, diese Stimme bewusst zu hinterfragen. Es ist nicht einfach, die Balance zwischen ehrgeizigen Zielen und gesundem Maß zu finden – weder im Sport noch im Alltag.
Was mir geholfen hat, ist der Blick auf das große Ganze: Warum mache ich das? Für wen? Und was macht mich wirklich glücklich? Der wahre Wert von Fitness liegt nicht in der Anzahl der Stunden im Fitnessstudio oder der Größe der Muskeln, sondern in der Freiheit, das Leben in all seinen Facetten zu genießen – stark, aber nicht getrieben.
Es ist wichtig, sich stets bewusst zu machen, dass wahre Stärke nicht nur durch das Streben nach Perfektion oder äußerem Erfolg entsteht, sondern vor allem durch die Fähigkeit, mit sich selbst und seinen Herausforderungen im Einklang zu stehen.
Die Faszination für körperliche Transformation kann uns oft zu extremen Maßnahmen verleiten, aber wahre Resilienz zeigt sich in der Fähigkeit, aus unseren Fehlern zu lernen, geduldig zu sein und auf langfristige Gesundheit zu setzen. Wenn wir unser Wohlbefinden ganzheitlich betrachten – sowohl körperlich als auch mental – und uns von unrealistischen Standards distanzieren, können wir eine nachhaltige Stärke entwickeln, die uns nicht nur zu besseren Athleten, sondern auch zu besseren Menschen macht.
Bleiben Sie also fokussiert, aber nicht besessen, und lassen Sie sich von Ihrem eigenen Körper und Geist in eine gesunde Richtung führen.