Glückliche Kindheit - „Nicht immer streng und superkonsequent“: Kinderarzt sagt, was gute Eltern ausmacht
Was macht gute Eltern aus? Das Wichtigste bei der Erziehung sei es, Raum zu lassen für Individualität, sagen zwei Experten. Insbesondere die Rolle der „deutschen Mutter“ gehöre dafür auf den Prüfstand.
Kaum etwas wird mit gleicher Sicherheit von jeder Generation hinterfragt wie die Erziehungsmethoden der Eltern und Großeltern. Beispielsweise war jahrzehntelang von der Trotzphase die Rede, wenn Kleinkinder rund um das dritte Lebensjahr mit einer beeindruckenden Ausdauer versuchen, ihren Willen durchzusetzen. „Heute heißt das Autonomiephase“, erklärt der Kinderarzt und Influencer Vitor Gatinho.
Als Kinderarzt sei er erster Ansprechpartner für pädagogische Probleme. Mit Abstand die häufigste Frage, die er von jungen Eltern gestellt bekomme: Wie gehe ich mit den Wutanfällen meines Kindes um? „Es kann äußerst frustrierend sein, wenn die Wünsche mit den eigenen Fähigkeiten kollidieren“, sagt Gatinho. Dann sei vor allem Verständnis gefordert. „Eltern müssen nicht immer streng und superkonsequent sein“, meint der Arzt, „sie dürfen auch streng und trotzdem liebevoll sein. Jede Beziehung lebt von Kompromissen und nicht von Machtausübung.“ Wichtig ist ihm Empathievermittlung: „Ich verstehe, dass Du sauer bist, aber das geht jetzt nicht.“
Täglich bis zu 500 Fragen
Seit nunmehr vier Jahren befüllt Vitor Gatinho bereits seinen Instagram-Kanal mit pädagogischen Tipps und Tricks. Damit angefangen habe er im August 2020 - auch aus Langeweile während der Coronapandemie. Nach einem Monat hatte der Kanal bereits 120.000 Follower. Dann kamen ein Podcast, eine App und zwei Spiegel-Bestseller hinzu. Heute erreichen den Mediziner über seine Kanäle täglich bis zu 500 Fragen.
Im Zentrum stehe die Erkenntnis, dass jedes Kind individuelle Bedürfnisse hat. Ebenso wie die Mütter, fügt Barbara Vinken hinzu. Die Professorin für Allgemeine Literaturwissenschaft und Romanische Philologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München hat sich intensiv mit dem traditionellen klassischen Rollenbild der deutschen Mutter auseinandergesetzt. Sie kommt zu dem Schluss: Es brauche dringend eine Neubewertung der Rolle von Müttern in der modernen Gesellschaft, die mehr Raum für Individualität und Selbstverwirklichung lasse.
Überholtes Idealbild
„Das Idealbild einer Mutter, die sich für ihre Kinder aufopfert und in der Erziehung quasi allgegenwärtig ist, ist ein Relikt aus einem patriarchalem Gesellschaftsgefüge, das längst ausgedient hat“, sagt Barbara Vinken. Die Erwartung, dass eine Mutter gleichzeitig perfekte Hausfrau und Erzieherin sein müsse, habe tiefgreifende Auswirkungen auf die ganze Familie. Der Druck, der dadurch auf den Müttern lastet, wirke sich auf alle aus, sagt Vinken.
Traditionelle Erziehungsmethoden, die oft auf einem autoritären Ansatz basierten, könnten die emotionale Entwicklung von Kindern stark beeinträchtigen.
Anders formuliert: Der Raum für Individualität, der den Müttern nicht zugestanden wird, fehle auch den Kindern. Dafür plädiert auch Influencer und Teilzeitpädagoge Gatinho. Am besten sei eine Erziehung, die die Individualität des Kindes respektiert und fördert. Kinder sollten in einem Umfeld aufwachsen, das ihre Kreativität und Selbstständigkeit unterstützt, anstatt sie in starre Rahmen zu zwängen, nicht nur Gehorsam lernen, sondern auch die Fähigkeit, eigene Entscheidungen zu treffen.
Raum für Fehler und Unvollkommenheit
Letztlich bleibe die Erkenntnis: „Einige veraltete Methoden haben nichts mit pädagogisch wertvoller Erziehung zu tun“, sagt Gatinho. „Beispielsweise der berühmte Klaps auf den Po oder die mit dem Fernsehformat ‚Die Super Nanny‘ Anfang der 2000er Jahre populär gewordene ‚Stille Treppe‘“. Eine moderne Erziehung sollte vielmehr Raum für Fehler und Unvollkommenheit lassen, sowohl für die Kinder als auch für die Eltern. Denn Erziehung dürfe auch Spaß machen.