Gregor Gysi im Interview: „Der DDR ist die Entkirchlichung wirklich gelungen“

Der Linke Gregor Gysi glaubt selbst nicht an Gott, findet Kirchen aber wichtig.

Gregor Gysi, 69, Vorsitzender der Europäischen Linken und Bundestagsabgeordneter, glaubt nicht an Gott, findet die Kirchen aber trotzdem wichtig. Herr Gysi, Sie haben mal gesagt, Sie fürchteten eine gottlose Gesellschaft. Warum? Weil wir dann keine allgemeinverbindlichen Moralnormen hätten. Die Linke war über lange Zeit in der Lage, solche Normen im Sozialbereich aufzustellen. Durch das Scheitern des Staatssozialismus ist die Linke für die Allgemeinverbindlichkeit zu geschwächt. Ohne Kirchen und Religionsgemeinschaften hätten wir also keine solchen Moralnormen mehr. Der Kapitalismus kann sie nicht erzeugen. Gibt es noch etwas, wozu Kirchen gut sind? Die Menschen, die religiös sind, brauchen sie. So einfach ist es. Das habe ich zu respektieren. Der Satz von Karl Marx wird übrigens immer falsch zitiert. Er hat gesagt: „Religion ist das Opium des Volkes.“ Und nicht: „Religion ist Opium für das Volk.“ Er meinte, das Volk sucht sich dieses Opium, weil es eine Sehnsucht danach gibt. Die These, dass die Menschen die Kirchen bräuchten, lässt sich zumindest für Ostdeutschland nur bedingt halten. In Wittenberg, wo jetzt der Abschlussgottesdienst des Kirchentages stattfindet, sind nur 16 Prozent der Menschen kirchlich gebunden. Ja, der DDR ist die Entkirchlichung wirklich gelungen. Ich hätte nicht gedacht, dass das nach ihrem Zusammenbruch so hält. Aber diese 16 Prozent sollen eben ihrer Religion nachgehen können. Was empfinden Sie, wenn Sie in eine Kirche gehen? Es sind meistens sehr hohe Räume, die sofort für Atmosphäre und Distanz sorgen. Und außerdem habe ich zweimal von der Kanzel gesprochen und dabei verärgert festgestellt: Wenn ich da stehe, dann kriege ich einen pastoralen Ton. Das muss den Räumen selbst geschuldet sein. Übrigens habe ich davon Margot Käßmann erzählt. Und sie sagte: Genau das versuchen wir unseren Pfarrern immer auszureden. Was haben Sie gepredigt? Ich habe erklärt, dass ich nicht an Gott glaube, und weshalb ich dennoch eine gottlose Gesellschaft fürchte. Und dann habe ich zur Reformation Stellung genommen, wobei ich sagen muss: Ich schätze Luther sehr; aber es ist kein Lutherjahr, sondern ein Reformationsjahr. Es gab ja auch noch andere Reformatoren. Luthers größte Leistung war die Bibelübersetzung. Dadurch hat er die Kirche viel volksnäher gemacht. War er ein Linker? Er wäre heute eher parteilos, weil er sich kritisch mit allen möglichen Positionen auseinander gesetzt hat und sich nicht binden wollte. Jesus wäre ein kritisches Mitglied unserer Partei. Bei Luther bin ich mir nicht sicher. Dabei war Luther ein Ostdeutscher. Ja, das ist wahr. Haben Sie schon mal gebetet? Als Kind. Damals lag ich im Krankenhaus. Und neben mir lag ein Pfarrerssohn. Der betete jeden Abend. Da habe ich auch an zwei oder drei Abenden gebetet und mir gedacht: Wenn es Gott gibt,...Lesen Sie den ganzen Artikel bei berliner-zeitung