Große Bestandsaufnahme - Für Deutschlands großen Wasserstoff-Traum beginnt jetzt die Realität
Die Welt geht eine Wette auf die Zukunft ein: Grüner Wasserstoff soll ein entscheidender Hebel für die Klimawende werden. Mit Milliarden-Investitionen will Deutschland hier zum Weltmeister avancieren. Wie realistisch sind diese Pläne? Erste Projekte scheitern schon - anderswo gibt es Grund zur Hoffnung.
In einem Gewerbegebiet am südlichen Stadtrand von Mainz sollte schon 2015 die Zukunft starten. Im „Energiepark Mainz“ der örtlichen Stadtwerke ging bereits damals einer der ersten großen sogenannten Elektrolyseure zur Produktion von grünem Wasserstoff an den Start, eine Leistung von sechs Megawatt (MW) wies die Anlage auf - damals revolutionär.
Jetzt, acht Jahre später, ist von der Zukunft nicht mehr viel übrig. Im Laufe des Betriebs seien „Schäden aufgetreten, die aus kommerzieller Sicht einen Ersatz der Anlage uninteressant macht“, sagt ein Sprecher der Stadt auf Nachfrage von FOCUS online Earth. Der Elektrolyseur läuft nicht mehr.
Dabei hat sich die Bundesrepublik ein ambitioniertes Ziel gesetzt: Zehn Gigawatt (GW). Oder umgerechnet 10.000 Megawatt. So viel „Elektrolyseleistung“ für grünen Wasserstoff will Deutschland bis 2030 schaffen. Elektrolyse und grüner Wasserstoff heißt: Strom, der mit einer Photovoltaikanlage oder einem Windrad produziert wird, spaltet Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff auf. Klimaneutral, ohne Treibhausgas-Emissionen. Das unterscheidet den „grünen“ Wasserstoff von seinem „grauen“ Pendant, bei dem genauso viel klimaschädliches Kohlendioxid (CO2) entsteht wie bei der direkten Verbrennung von Öl oder Erdgas - und der derzeit noch deutlich in der Mehrheit ist.
Die große Wirtschafts-Revolution
Doch nur den grünen Wasserstoff soll es in der Zukunft geben. Viele Hoffnungen verbinden sich mit dem mutmaßlichen Wundermittel: Busse, Schiffe, Lkws sollen in für ihren Antrieb verwenden. Stahlwerke, Erdölraffinerien, Chemie-, Zement- und Düngemittelwerke wollen damit die fossilen Energieträger in ihrer Produktion ersetzen.
Das bedeutet, dass sich die Wirtschaft und die Industrielandschaft grundlegend verändern werden. Anstatt wie seit fast zwei Jahrhunderten Kohle, Öl und Gas zu verfeuern und einen riesigen CO2-Fußabdruck zu hinterlassen, wollen die Betriebe zur Mitte des Jahrhunderts klimaneutral sein. Einerseits schreibt das die Politik vor, andererseits liegt es im Eigeninteresse: Der Preis fossiler Energieträger dürfte in den kommenden Jahrzehnten nochmal deutlich ansteigen.
Ende des Hochofens
Die Duisburger von Thyssenkrupp wollen ihren Stahl dann nicht mehr im kohlebefeuerten Hochofen kochen, sondern mit grünem Strom und Wasserstoff in der sogenannten „Direktreduktionsanlage“ herstellen, einem Schachtofen, der mit Erdgas oder Wasserstoff funktioniert. Oben werden Eisenerz-Pellets eingefüllt, von unten strömen Kohlenmonoxid und Wasserstoff den Ofen hinauf und nehmen dem Eisen die Sauerstoffatome. Unten fällt dann kugelförmiges direktreduziertes Eisen, sogenannter Eisenschwamm, aus dem Schachtofen. Das „reduzierte“ Eisen wird anschließend zu Stahl legiert. Der gesamte CO2-intensive Schmelzprozess im Hochofen, bei dem das Eisenerz erhitzt wird und das Eisen abfließt, wird überflüssig.
Die landschaftsprägenden Hochöfen im „Pott“, aber auch bei den anderen großen Stahlherstellern in Deutschland sollen in 21 Jahren Industriegeschichte sein. CO2-Ziel: Netto-Null.
Das ist gewaltig, bedenkt man, dass die deutsche Stahlindustrie im Jahr 2022 rund 37 Millionen Tonnen Rohstahl produzierte und dabei 55 Millionen Tonnen CO2 emittierte. Das sind 28 Prozent der gesamten Industrieemissionen. Allein für eine Tonne Stahl müssen 770 Kilogramm Kohle verfeuert werden, die CO2-Belastung liegt bei 1,5 Tonnen pro Tonne Stahl.
Der Herkules-Akt
Und den Löwenanteil verbraucht Thyssenkrupp Steel in Duisburg. Allein 2,5 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland gehen auf das Konto des Duisburger Stahlriesen. Das soll spätestens 2045 ein Ende haben. „Mit jeder Tonne grünem Wasserstoff werden 28 Tonnen CO2 eingespart“, sagt Matthias Weinberg, Leiter Competence Center Metallurgy, zu FOCUS online Earth. Das alte Dreckschleuder-Image soll bald der Vergangenheit angehören. Man wolle zum „Wegbereiter nachhaltiger Wertschöpfung in Europa“ werden, so formulieren sie es in Duisburg.
Mit diesem Ziel der völligen Umwälzung und dem Austausch einer fast 200 Jahre lang eingesetzten Technik steht Thyssenkrupp Steel stellvertretend für die gesamte Schwerindustrie. Allerdings muss der dafür benötigte Wasserstoff hergestellt werden. Und an dieser Stelle geht es ans Eingemachte. Insgesamt 60 Kilogramm Wasserstoff sind nötig für eine Tonne Stahl. Würde allein die gesamte deutsche Stahlproduktion heute auf „Eisendirektreduktion“ umgestellt, ergäbe dies einen Bedarf von 53 Terrawattstunden (TWh) oder 1,6 Millionen Tonnen Wasserstoff.
„Wir haben keine Wahl“
Und auch die übrige Schwerindustrie braucht bei der Dekarbonisierung viel Wasserstoff. Die Umwandlung der fossilen in eine klimaneutrale Wirtschaft ist ein Herkules-Akt, und es ist keineswegs sicher, dass er gelingt. Aber: „Wir haben keine andere Wahl, wenn wir bis 2045 klimaneutral sein und den Klimawandel aufhalten wollen", sagt Weinberg. „Wir müssen auf fossile Energien verzichten.“
Doch der Aufbau einer CO2-armen Stahlproduktion und die Umstellung auf Direktreduktion oder alternative Technologien ist ein milliardenschweres Unterfangen. Zusammengerechnet kommen die fünf größten deutschen Stahlkonzerne - Thyssenkrupp, Salzgitter, Stahl-Holding-Saar, ArcelorMittal und die Hüttenwerke Krupp-Mannesmann - auf 15 Milliarden Euro für die Umstellung. Mindestens.
Der Traum vom Wasserstoff-Weltmeister
Die Bundesregierung und die Bundesländer wollen dabei helfen, dass sich die grüne Wasserstoff-Transformation in Deutschland nicht nur durchsetzt - sie wollen Weltmeister werden. Deutschland soll “Leitmarkt für Wasserstofftechnologien" werden, heißt es in der Nationalen Wasserstoffstrategie der Bundesregierung.
Insgesamt 24 „herausragende und zukunftsweisenden Wasserstoffprojekte“ fördern die Bundesregierung und die Bundesländer in Deutschland mit insgesamt 7,9 Milliarden Euro. „Wasserstoffleitungen werden die Lebensadern der Industriezentren sein“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne)bei der Übergabe für die Förderbescheide im Juli.
„Das Henne-Ei-Problem ist gelöst“
Die 24 Projekte bilden die drei Säulen ab, die braucht, um den Wasserstoff in Deutschland zu etablieren: Produktion, Transport, Speicherung. Im Oktober genehmigte die Bundesnetzagentur außerdem das 9040 Kilometer lange Wasserstoffkernnetz - früher als gedacht. Es ist das Herzstück der Wasserstoffinfrastruktur und soll Produzenten mit Abnehmern und Lagerstätten in Deutschland und Europa verbinden.
Insgesamt 278 Terrawattstunden Wasserstoff-Energie sollen jährlich transportiert werden, sagt die Vereinigung der Fernleitungsnetzbetreiber. Im Jahr 2032 soll das Netz stehen – und bis dahin auch die südlichen Länder wie Baden-Württemberg und Bayern angeschlossen sein.
Jedenfalls können Wasserstoffinteressenten nicht mehr argumentieren, dass es an der Infrastruktur fehle. „Das Henne-Ei-Problem ist gelöst“, sagt eine Sprecherin des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) zu FOCUS online Earth. Bislang wollten Interessenten aus der Industrie keine Bestellungen für Wasserstoff aufgeben, weil niemand wusste, ob die dafür nötige Infrastruktur auch jemals aufgebaut werden wird. Betreiber und Versorger wiederum wollten für die Infrastruktur nicht in Vorleistung gehen ohne Aussicht auf Abnahmeverträge.
Schmutziges Geschäft - bislang
Tatsächlich sprießen immer mehr Wasserstoff-Baustellen aus dem Boden. Insgesamt 73 Elektrolyseprojekte seien „aktuell in der Planungsphase“, schreibt das BMWK auf Anfrage von FOCUS online Earth. Nach Jahren der Rückschläge nimmt Wasserstoff in Deutschland und weltweit offenbar Fahrt auf. Laut Globalen Wasserstoffbericht für 2024 der Internationalen Energieagentur (IEA) ist die Produktion von emissionsarmen Wasserstoff gegenüber 2021 um 50 Prozent gestiegen. Im gleichen Zeitraum sind weltweit neunmal mehr Elektrolyseure installiert worden. Die Investitionen stiegen von 300.000 auf sieben Milliarden Dollar. Bis 2030 soll sich die Wasserstoffproduktion verzehnfacht haben.
Es wird auch Zeit. Die rund 70 Millionen Tonnen des jährlich weltweit erzeugten „grauen“ Wasserstoffs war bis vor kurzem noch immer genauso dreckig wie die Verbrennung der fossilen Brennstoffe. Die Emissionen der weltweiten Wasserstoffproduktion liegen demnach bei 830 Millionen Tonnen CO2 – soviel wie die gesamten Treibhausgas-Emissionen Großbritanniens und Indonesiens zusammen.
Seitenhieb auf die Groko
Der Grund: Es gab bislang viel zu wenige Elektrolyseure, die mit grünem Strom aus Windkraft und Sonne grünen Wasserstoff herstellen. Nur bei 0,1 Prozent lag der Anteil der Elektrolyse an der globalen Wasserstoffproduktion noch 2020. Als Hauptgrund galt bislang: zu teuer, zu energieintensiv, zu aufwändig und wirtschaftlich zu unsicher. Ein 20 Megawatt-Elektrolyseur, der 2.900 Tonnen Wasserstoff produziert, kostet rund 45 Millionen Euro.
Ein weiterer Grund: Es fehlt an Windrädern und Photovoltaikanlagen, die den grünen Strom für die Elektrolyseure liefern. Beim Photovoltaik-Ausbau erlebt Deutschland derzeit einen wahren Boom, aber es fehlen mehr als 40.000 Windräder alleine Land, 7000 weitere fehlen „offshore“ in Nord- und Ostsee. „Dass wir im Jahr 2045 klimaneutral werden wollen in Deutschland, ist ein Beschluss der Großen Koalition", heißt es von Seiten des Wirtschaftsministeriums auf Anfrage. „Damals wurden allerdings kaum Voraussetzungen dafür geschaffen.“
Nicht nur in Deutschland, weltweit sei der Einsatz von Wasserstoff verschlafen worden, sagt der Wasserstoff-Experte Ian Staffell vom Imperial College London. In einer Studie haben er und seine Kollegen die 2000er Jahre als „verlorene Dekade“ für den Wasserstoff bezeichnet.
Gebaut ist fast nichts
Die Folge: Gebaut wurde bislang so gut wie nichts. Das größte der 24 Wasserstoff-Dekarbonisierungsprojekte ist das Stahl-Experiment von Thyssenkrupp Steel. Zwei Milliarden Euro schießen der Bund und das Land NRW zu, damit die Duisburger zunächst 2,3 Millionen Roheisen klimaneutral herstellen und 3,5 Millionen Tonnen CO2 sparen. Dafür müssen jedoch allein 140 Kilotonnen (kt) grüner Wasserstoff hergestellt werden. Einen Elektrolyseur dafür gibt es noch nicht. „Die neuen Anlagen sollen 2026 in Betrieb gehen und planmäßig ab 2028 stufenweise auf grünen Wasserstoff umgestellt werden“, heißt es lediglich in einer Pressemitteilung des BMWK.
Das hat der Stahlriese mit fast allen Projekten auf der deutschen Förderliste gemein: Die Produktion von grünem Wasserstoff ist noch Zukunftsmusik. Von „HydroHub Fenne“ aus dem Saarland mit 55 MW Elektrolyseleistung über „GrueH2Ro“ in Rostock mit 100 MW bis zum neuen Vorzeigeprojekt Hamburg Green Hydrogen Hub auf dem alten Kraftwerksstandort Hamburg-Moorburg, das perspektivisch 800 MW Elektrolyse leisten will: Die Inbetriebnahme ist frühestens 2027 oder 2028 geplant – wenn alles glattläuft.
“Teurer grüner Wasserstoff"
Vom großen Zehn-Gigawatt-Ziel ist Deutschland daher noch weit entfernt. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums sind aktuell Anlagen mit einer Leistung von insgesamt 112 MW in Betrieb - das entspricht 1,12 Prozent des Ziels.
Zu den Pionieren gehört ein Projekt in Oberhausen: Der 45 Millionen Euro teure 20-Megawatt-Elektrolyseur „Trailblazer“ (übersetzt: Wegbereiter) der Düsseldorfer Technologie-Firma Air Liquide produziert seit Anfang des Jahres insgesamt 2.900 Tonnen grünen Wasserstoff mit Hilfe von Windkraft - die größte Anlage ihrer Art in Deutschland.
Abnehmer für den, wie das Unternehmen einräumt, „teureren grünen Wasserstoff“ hat Air Liquide auch schon: die Duisburger Verkehrsgesellschaft (DVG). Sie will bis 2030 „CO2-frei unterwegs sein“, wie Vorstand Andreas Gutschek sagt. Die Stadt Duisburg rüstet ihren gesamten Öffentlichen Nahverkehr daher auf Wasserstoffantrieb. Die Dieselbusse werden ausgemustert, die Stadt hat 100 Brennstoffzellenbusse bestellt. Im Oktober sind bereits die ersten elf Busse der Firma Solaris eingetroffen. Sie werden von Air Liquide mobil mit Wasserstoff betankt.
Auch der Landkreis Düren setzt auf Wasserstoff. Fünf H2-Busse fahren aktuell, in diesem Jahr kommen 20 weitere hinzu. Im nächsten Jahr soll der Elektrolyseur fertig sein. Neben der Schwerindustrie mit dem großen Energiebedarf gehören die Kommunen zu den wichtigsten potenziellen Kunden der Wasserstoffwirtschaft.
Auf Importe angewiesen
Die Zeit drängt. Zusammen mit Air Liquide aus Oberhausen sind nach FOCUS online Earth-Recherchen nur vier weitere Elektrolyseure in Deutschland in Betrieb: In Hamburg-Neuhof, im Energiepark Wunsiedel, bei Shell in Wesseling und im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen. Alle fünf kommen zusammen auf eine Elektrolyseleistung von 59,75 MW.
Ein Anfang, aber dennoch nur Tropfen auf den heißen Stein angesichts der ambitionierten Ziele. Ein Aufbau von zehn Gigawatt Kapazität in nur sechs Jahren - wie soll das klappen? Das WIrtschaftsministerium zuversichtlich: „Die Umsetzung aller geplanten Projekte würde initial zu einem Anstieg der Elektrolysekapazität um etwa 8,9 GW führen“, heißt es auf Anfrage von FOCUS online Earth. Ein gewichtiger Teil müsse jedoch importiert werden - auch das ist klar.
Tatsächlich fahren weltweit gerade ambitionierte Elektrolyse-Projekte hoch, etwa im Nahen Osten und in Nordafrika - wo billiger Strom aus Sonnenenergie im Überfluss verfügbar ist. Wie das weltweite Wasserstoff-Experiment auch immer ausgeht: Ein Zurück scheint es diesmal nicht zu geben. Dazu ist zu viel Geld und zu viel Versprechen im Spiel. Gut möglich, dass aus dem Hydro-Hype diesmal der „bleibende Aufschwung“ wird, den die Internationale Energieagentur in ihrem Bericht „The Future of Hydrogen“ angekündigt hat. Der ist allerdings auch schon wieder vier Jahre alt.
Selbst im Energiepark Mainz, dem Standort mit dem kaputten Elektrolyseur, bleibt man optimistisch. Die Erfahrungen des „Forschungsprojektes“ seien gut gewesen, sagt der Sprecher der Stadt. Mainz wolle die Anlage bald wieder in Betrieb nehmen - und Wasserstoff für seine Busflotte herstellen.