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Die große Illusion – warum von echter Integration von Flüchtlingen keine Rede sein kann

Sein Wochenende ist fast typisch deutsch durchgeplant: Den Samstag hat Firas Al Sehnawi fürs Technische Hilfswerk (THW) reserviert, wo er seit gut einem halben Jahr die Grundausbildung für Helfer durchläuft. Sonntags ist er zum Kaffee verabredet.

Nur zwischendurch, da muss er sich noch ein paar Stunden freischaufeln, um zu lernen – keine drei Wochen mehr bis zur Abschlussprüfung seines nächsten Deutschkurses. Der 38-jährige Syrer wäre seinem Ziel damit ein Stück näher: dem Sprachniveau „C1“, das er dann angehen könnte und mit dem er seinen Master in Controlling an einer deutschen Universität abschließen darf. „Für C1 brauche ich aber sicher noch ein Jahr“, sagt er.

Aber was ist ein Jahr, das er mit Lernen verbringen kann, gegen all die Zeit des Stillstands? „Ich bin es schon gewohnt zu warten“, erzählt Al Sehnawi. 2015 kam er nach Deutschland, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. Er war auf der Flucht vor dem Krieg in seiner Heimat.

Doch erst nach zwei Jahren, als er Klage einreichte, wurde sein Asylantrag überhaupt bearbeitet – alles Betteln und Drängeln sowie die ständigen Nachfragen bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zuvor hatten nichts gebracht. Erst dann konnte er aus der Gemeinschaftsunterkunft in Ratingen ausziehen, in eine eigene Wohnung, und einen richtigen Sprachkurs besuchen. Bis dahin musste Al Sehnawi warten.

Keine Lust, untätig zu sein

Doch er wollte nicht untätig rumsitzen. Er fand eine deutsche Freundin, die Arabisch lernt und im Gegenzug mit ihm Deutsch spricht. Als er anfangen wollte, sich zu bewerben, folgte die nächste Wartezeit. Sechs Monate dauerte es, bis sein syrischer Bachelor-Abschluss in Wirtschaftswissenschaften anerkannt wurde, erst vor wenigen Wochen lag das ersehnte Papier im Briefkasten.

Dabei ist Firas Al Sehnawi der ideale Kandidat für mustergültige Integration: Er ist fleißig, gebildet, erfahren. Er stammt aus einer drusischen Familie aus As-Suwaida, einem traditionellen Weinbaugebiet – schließlich trinken die Drusen, deren Religion sich deutlich vom Islam unterscheidet, auch Wein.

Seine Geschwister sind Ärzte, Musiker, Krankenschwester. Er selbst gründete schon während des Studiums in Damaskus ein Unternehmen für Innenausbau – sein letztes Projekt vor der Flucht war ein 24-stöckiges Gebäude im Libanon, für das er 20 Mitarbeiter beschäftigte. Al Sehnawi ist einer der Hochqualifizierten, auf die Deutschland früher gewartet hätte. Heute wartet er.

Und er ist damit nicht allein. Seit 2015 haben mehr als 1,4 Millionen Menschen in Deutschland Asyl gesucht. Da gibt es die Zahnärztin, die fast anderthalb Jahre auf einen Termin für die Sprachprüfung warten muss – und in dieser Zeit im Krankenhaus keinen Patienten anfassen darf. Da gibt es den Arzt, der in Syrien ein großes Klinikum leitete, der 35 Jahre Erfahrung als Chirurg hat, hier aber noch einmal neu studieren müsste. Sie alle wollen, dürfen aber nicht.

Während CSU und CDU, Deutschland und die EU sich fast überworfen hätten wegen des Streits über die Aufnahmeregelung von Flüchtlingen, köchelt dahinter ein Problem, das viel tiefer sitzt. Wochenlang hat die Union nun gestritten über die Transitzentren – wenn sie denn so genannt werden dürfen.

Die Politik sowohl in Deutschland als auch in Europa verhandelt darüber, wer wann wohin darf, wer gehen muss und bleiben darf. Was darüber zu kurz kommt, ist das Bewusstsein dafür, dass es nicht nur um die Verteilung der Menschen geht, um die Erreichung irgendwelcher Quoten, darum, so wenige wie möglich ins Land zu lassen oder innerhalb kürzester Zeit möglichst viele Asylanträge zu erledigen.

Es geht darum, sich um die zu kümmern, die schon da sind. Darum, diese Asylsuchenden zu integrieren, um ihr wirkliches Ankommen in dem Land, in dem sie eine Bleibe suchen, arbeiten, ja leben wollen. Dabei unterscheidet die Wissenschaft unter gleich mehreren Faktoren: Es geht um eine Teilhabe im ökonomischen Sinne, im sozialen, kulturellen und politischen. „Haben die Flüchtlinge Arbeit, verdienen sie Geld, haben sie Kontakte in der Nachbarschaft, im Stadtteil, wie steht es um Bildung und Sprache, dürfen sie sich politisch beteiligen?

All das sind wichtige Fragen“, beschreibt der Politologe Jochen Oltmer, Migrationsforscher an der Universität Osnabrück. „Nicht zu vergessen der Aufenthaltsstatus. Bei einem schlechten Aufenthaltstitel ist die Handlungsfähigkeit der Geflüchteten sehr eingeschränkt.“ Denn die Menschen brauchen eine Perspektive, um sich zu integrieren.

Die Versäumnisse stauen sich auf

Doch über das pure Abarbeiten von Formalitäten haben sich Versäumnisse aufgestaut, die nur schwer wieder aufzuholen sind. Eine ganze Generation von Flüchtlingen ist alleingelassen, demotiviert, frustriert. Und längst nicht alle sind dabei so widerstandsfähig, zeigen so viel Eigeninitiative wie Firas Al Sehnawi.

Gerade die weniger Gebildeten unter den Flüchtlingen bekommen nach ihrer Ankunft systematisch das Bild vermittelt: Fatalistisch abwarten und von staatlichen Zuwendungen leben ist genau das, was Deutschland von dir erwartet. Diese Flüchtlinge in das Leben in Deutschland und Europa zu integrieren, das haben die Instanzen bislang verschlafen. Die Versäumnisse nun aufzuholen ist eine gewaltige Aufgabe.

Drei Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise leiden die Neuankömmlinge in ganz Europa noch immer unter dem multiplen Organversagen der für sie zuständigen Behörden. Dabei geht es längst nicht mehr um das Meistern einer akuten Krisensituation. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle im Oktober 2015 kamen mehr als 433.000 Flüchtlinge in der EU an, im Mai 2018 waren es nur noch 11.556. Das entspricht nicht mal einem Flüchtling pro 40.000 EU-Bürgern.

Die Anfänge in diesem Reigen an Versäumnissen, an Versagen von Politik und Behörden sind da zu finden, wo die Flüchtlinge an unserem Kontinent anlanden. An den Grenzen der EU, vor allem an den Küsten von Italien und Griechenland.

Auch hier dürfen die Hilfesuchenden die Lager erst verlassen, wenn ihr Asylverfahren genehmigt ist. Doch das kann Jahre dauern, wenn die Antragsteller mithilfe findiger Anwälte durch alle Instanzen gehen. Und so leben die Flüchtlinge dort unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen.

„Nirgendwo in Griechenland leben so viele Menschen auf so engem Raum zusammen wie hier“, sagt Giannis Balpakakis. Der General a. D. ist Leiter des Erstaufnahmelagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos, einem sogenannten Hotspot der EU. Balpakakis sitzt in seinem Büro, einem fensterlosen Wohncontainer. Ein Schreibtisch mit Aktenbergen, Telefonen, Funkgeräten und Computern, eine Sitzecke, ein kleiner Konferenztisch – so viel Platz hat sonst niemand in Moria.

Fünf Hektar umfasst das Gelände. Die dicht an dicht stehenden Container sind für 3000 Menschen ausgelegt. Auf einer Tafel in Balpakakis’ Büro notieren die Mitarbeiter der Lagerleitung jeden Tag, wie viele Menschen hier tatsächlich leben. Mitte dieser Woche waren es 7369.

Ähnlich überfüllt wie Moria sind die Hotspots auf den anderen Inseln der östlichen Ägäis. Auf Samos lebten Mitte der Woche 3630 Menschen in einem Lager, das für 648 Personen ausgelegt ist. Unter dem Strich wohnen derzeit knapp 17.600 Flüchtlinge und Migranten in Unterkünften mit einer Kapazität von 9028 Plätzen.

Hunderte Menschen, darunter Familien mit kleinen Kindern, hausen in Moria in Campingzelten und selbst gebauten Unterschlägen außerhalb der offiziellen Lager. Erschöpft spannen Menschen im Olivenhain Plastikplanen über dürre Äste. Wer dort vegetieren muss, hat keine andere Unterkunft oder fühlt sich innerhalb des eigentlichen Lagers nicht mehr sicher. Vor allem nachts entlädt sich bei einigen der Zusammengepferchten der Stress in Gewalt.

„Die Lage hat mich schockiert“

Das Personal des Flüchtlingslagers besteht vor allem aus griechischen Freiwilligen – ab den Abendstunden ist meist niemand mehr vor Ort. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen berichtet von Gewaltausbrüchen, Vergewaltigungen, Missbrauch. Legt sich die Dunkelheit über das Lager, trauen sich viele Menschen nicht mehr, die Toiletten zu benutzen.

Florian Westphal, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen, spricht von „gesundheitsschädlichen Bedingungen“. Täglich behandeln die Mediziner etwa 80 der jüngsten Flüchtlinge in der Kinderklinik der Organisation, gelegen gegenüber dem Eingang von Moria. „Ich habe auf dieser Welt, etwa in Afrika, schon viel Schreckliches gesehen, aber die Lage in Griechenland hat mich zutiefst schockiert“, sagt Westphal.

Aneinandergedrängte Minizelte ohne Freiräume, Erbrechen, Durchfall, Haut- und andere Infektionskrankheiten, die die Menschen quälen. Hinzu kommen Wunden und Knochenbrüche, die nach Gewaltausbrüchen versorgt werden müssen. Viele seiner krisenerfahrenen Mitarbeiter stoßen hier an ihre Grenzen; die Burn-out-Quote sei in den griechischen Lagern weltweit am höchsten.

„Was ich bei meinem Besuch dort gesehen habe, steht im eklatanten Widerspruch zu allem, was die EU versprochen hat“, klagt Westphal an. „Die unhaltbaren Lebensumstände in den Lagern auf den griechischen Inseln sind Ausdruck des Unwillens von EU und Bundesregierung, endlich eine menschenwürdige Politik zum Schutz der Betroffenen zu gestalten.“ Mit dem EU-Türkei-Deal von 2016 seien diese inhumanen Zustände provoziert worden, während gleichzeitig die Versprechen, legale Fluchtwege zu schaffen, nicht eingehalten worden seien.

Die im Flüchtlingsabkommen vorgesehene Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei scheitert meist an den schleppenden Asylverfahren. Wer Asyl beantragt, wird von den Griechen vorerst nicht abgeschoben. Von rund 80.000 Menschen, die seit dem Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens aus der Türkei nach Griechenland kamen, wurden weniger als 2000 dorthin zurückgeschickt.

Das Parlament hat daher kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das die Einspruchsmöglichkeiten abgelehnter Antragsteller einschränkt, damit die Asylverfahren gestrafft werden. Zusätzlich sollen die schutzbedürftigsten Flüchtlinge wie Schwangere, Mütter mit Kleinkindern oder schwersttraumatisierte Flüchtlinge künftig schneller in Lager auf dem Festland gebracht werden.

So hofft Migrationsminister Dimitris Vitsas, in den kommenden Monaten die Zahl der Menschen in den Hotspots von jetzt 17.000 auf 10.000 zu senken – immer noch zu viele. Und der Druck auf Griechenland wächst ständig. In den ersten vier Monaten 2018 kamen 14.324 Flüchtlinge und Migranten aus der Türkei nach Griechenland. Fast zweieinhalb Mal so viele wie im Vorjahreszeitraum.

Immer wieder sehen sich die Griechen mit der Forderung konfrontiert, ihre Außengrenzen besser zu schützen. Doch die griechische Küstenwache darf nach dem Völkerrecht Flüchtlingsboote nicht abdrängen. Zwar soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex personell und materiell aufgerüstet werden, doch viel wird das an der Situation im östlichen Mittelmeer nicht ändern.

Pro Tag kommen im Schnitt der vergangenen Wochen etwa 100 Menschen aus der Türkei über die Ägäis. Die Frontex-Schiffe und -Flugzeuge dürfen innerhalb der türkischen Hoheitsgewässer nicht patrouillieren. Wenn die Flüchtlingsboote aber erst einmal die griechischen Gewässer erreicht haben, bleibt den Grenzschützern nichts anderes, als sie zu den griechischen Inseln zu bringen.

Juristische Pflicht, moralische Verantwortung

Ähnlich ist es in Italien. In der kreisrunden Operationszentrale der Guardia Costiera in Rom mit ihren vielen großen Monitoren im Keller des römischen Verkehrsministeriums fängt Admiral Giovanno Pettorino, Kommandant der italienischen Küstenwache, Notrufe auf und koordiniert Rettungseinsätze im Mittelmeer vor der Küste Libyens. „Wir haben immer auf jeden Notruf geantwortet, der von hoher See kam, und werden das auch weiter tun“, sagt er, „das ist eine juristische Pflicht, aber wir fühlen auch die moralische Verantwortung.“

Auch die EU-Mission „Sophia“ im Rahmen der Operation Eunavfor Med arbeitet unspektakulär im Mittelmeer. Erst vor zwei Wochen hat der Bundestag die Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz gegen Schleuser vor der libyschen Küste verlängert. Seit Beginn der Operation 2015 sind mehr als 48.100 Menschen von EU-Einheiten aus Seenot gerettet worden, davon 22.500 Flüchtlinge von deutschen Schiffen.

Das Problem ist denn in der Regel auch nicht die Rettung von Menschenleben, sondern das, was mit den Migranten passiert, wenn sie an Land sind. Von den Schiffen der Küstenwache werden sie in die Hotspots der EU gebracht. Sechs davon gibt es in Süditalien, der größte ist mit 500 Plätzen auf Lampedusa. Wer Recht auf Asyl hat, soll nach 48 Stunden weitergeschickt, Wirtschaftsflüchtlinge dagegen zurückgeschickt werden.

Aber die Realität sieht anders aus. Es gibt Versäumnisse vor Ort und einen Wirrwarr von Kompetenzen zwischen EU-Institutionen wie der Grenzagentur Frontex, Uno-Organisationen wie dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR und dem italienischen Staat. Wer kein Recht auf Asyl hat, will gar nicht in Italien bleiben, viele brechen aus, schlagen sich nach Norden durch über die Grenzorte Ventimiglia und Bardonecchia nach Frankreich oder im Zug über den Brenner Richtung Deutschland.

Wer es bis hierhin geschafft hat, landet in den langsamen Mühlen des BAMF. Seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 kämpfen die Mitarbeiter der Behörde gegen den riesigen Berg an Asylverfahren an. Mittlerweile versucht bereits der vierte BAMF-Chef innerhalb von drei Jahren, Ordnung in das Dickicht zu bringen. Erst Manfred Schmidt, dann seit September 2015 Frank-Jürgen Weise, und nun soll auf die nach knapp anderthalb Jahren geschasste Jutta Cordt der Bayer Hans-Eckhard Sommer folgen. Was darunter gelitten hat, ist jedoch die eigentlich viel wichtigere und vor allem langwierigere Aufgabe der Integration.

Das Problem: „Es wird vor allem über das Management von Bewegung gesprochen – in einer Konstellation, in der seit 2016 schon deutlich weniger Flüchtlinge nach Deutschland kommen“, sagt Migrationsforscher Oltmer. „Wir bräuchten dringend eine deutlich intensivere Debatte über Integration, aber das findet überhaupt nicht statt.“

Dabei sind die Missstände bei der Integration von Flüchtlingen mit Bleibeperspektive, einer zentralen Aufgabe des BAMF, offensichtlich. Anstelle von 430.000 Menschen, die im vergangenen Jahr Integrationskurse besuchen sollten, standen zum Jahresende lediglich 292.000 neue Teilnehmer zu Buche.

Kein Wunder, kommt das BAMF doch nicht hinterher, die Flüchtlinge in Integrationskurse zu bringen, die in der Regel aus 700 Stunden Unterricht bestehen – je nachdem, wie die Träger die Stunden aufteilen, dauern sie etwa ein halbes Jahr. Anfang 2017 lag die durchschnittliche Wartezeit laut BAMF bei 10,9 Wochen. Ende 2017 war diese Spanne auf 12,5 Wochen gestiegen. Ziel der Behörde war eigentlich eine Wartezeit von maximal sechs Wochen.

Für die Uni reicht das Deutsch nicht

Noch problematischer aber als die Wartezeiten ist, dass die Statistiken Zweifel an Wirksamkeit und Qualität der Kurse wecken, insbesondere an der Vermittlung der deutschen Sprache. Lediglich 48,7 Prozent der Kursteilnehmer erreichen das angestrebte Niveau B1, das als sprachliche Voraussetzung für den Eintritt in den Arbeitsmarkt gilt.

Und selbst mit diesem Niveau, räumt das BAMF in einer Stellungnahme für das Handelsblatt ein, „kommen in der Regel eher Helfertätigkeiten in Betracht, in welchen keine komplexen Zusammenhänge verstanden bzw. dargestellt werden müssen“.

48,7 Prozent – das ist der niedrigste Wert der vergangenen Jahre. Marc Borkam, hohe Stirn, schwarze Jeans, kariertes Hemd, hat dafür mehrere Gründe ausgemacht. Der 46-Jährige spricht von einer unendlichen Katastrophe, wenn es um die Sprachvermittlung bei Flüchtlingen geht. Von Behördenversagen. Von enttäuschten Flüchtlingen, die langsam merken, dass sie es nie an eine deutsche Uni schaffen werden. Von Aggressionen, Frustration, Wut.

Borkam ist Leiter der „Tasi“, der Trierer Akademie für Sprachvermittlung und Integrationsförderung. 2015 suchte das BAMF dringend nach Anbietern für genau das, was Borkam seit 20 Jahren macht – er unterrichtet „Deutsch als Fremdsprache“. Doch Borkam und seine elf Mitarbeiter haben sich bewusst entschieden, nicht mitzumachen beim Geschäft mit den Integrationskursen. Kein einziger seiner Kurse wird vom BAMF finanziert, das Geld kommt, so erzählt er, entweder von den Teilnehmern selbst oder von Stiftungen, Unternehmen und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD).

Die Flüchtlinge, die zu ihm kommen, gehörten in ihrer Heimat zur Bildungselite, sie haben nicht selten einem Schlepper Tausende Euro dafür bezahlt, dass sie hier ihr Studium beenden können. „Doch das sprachliche Niveau der BAMF-Kursabsolventen ist meist zu schlecht“, konstatiert Borkam. Sprich: Wer mit bestandenem B1- oder gar B2-Zertifikat zur „Tasi“ kommt, um daran anzuknüpfen und baldmöglichst das für künftige Studenten so wichtige C1-Niveau zu erreichen, merkt bald, dass das nicht geht.

Auch bei den vom BAMF zugelassenen Trägern fällt das mittlerweile auf. „Auch wenn die Teilnehmer mit einer Gesamtnote B1 bestehen, sind sie schriftlich und im Grammatikteil oftmals unter A2-Niveau“, sagt Ingo Beckmann, der bei der Kieler Volkshochschule den Programmbereich Sprache und Integration leitet. Die auf B1 aufbauenden B2-Kurse seien aber so stark schriftlich orientiert, dass die meisten der B1-Absolventen dort keine Chance hätten zu bestehen. „Bei uns fielen in den B2-Kursen teilweise bis zu drei Viertel der Teilnehmer durch. Seitdem die Jobcenter vorsichtiger zuweisen, besteht immerhin gut die Hälfte.“

Und so merken die Flüchtlinge langsam, dass sie in einer Sackgasse gelandet sind. Sie kommen nicht voran – können aber auch nicht zurück.

Persönlicher Lernerfolg bleibt oft auf der Strecke

Im Klassenraum der „Tasi“ hängen keine Bilder, die Wände sind weiß, die Tafel ist sauber, die Tische sind leer. Nur in der Ecke liegen ein paar Plakate, die Schüler beschrieben haben. Nichts soll hier ablenken vom eigentlichen Ziel. Borkam sagt, er bringe derzeit nur etwa 20 Prozent der Flüchtlinge an die Uni, die bei ihm das C1-Niveau anstreben. Und das auch nur mit viel Geduld und Zeit. Weitere zehn Prozent entscheiden sich für eine Ausbildung – und der große Rest steigt aus. Zu groß sind die Defizite, zu gering ist das, auf dem er aufbauen kann.

Borkam fragt sich, warum das BAMF nicht längst die Träger der Integrationskurse dazu verpflichtet hat, ihre Deutschlehrer fest anzustellen. Um ihnen vorgeben zu können, wie der Unterricht zu laufen hat. Um mit den Flüchtlingen eine Fremdsprache systematisch zu lernen – und nicht nur Prüfungsaufgaben auswendig zu lernen. Und warum eigentlich fachfremde Menschen hier überhaupt unterrichten dürfen, und weshalb das BAMF keinerlei Vorgaben zur Lernentwicklung macht ... Wert gelegt werde nur auf den entscheidenden Test am Ende des Kurses.

Das BAMF will nun immerhin einen neuen Zwischenkurs anbieten, um die fehlenden schriftlichen und die Grammatikkenntnisse zu fördern. Für das zweite Halbjahr 2018 ist den Trägern der Start des neuen Angebots angekündigt.

Es gehe dem BAMF wohl nur darum, möglichst vielen ein Zertifikat zu geben, sagt Borkam. Der persönliche Lernerfolg interessiere nicht. Es fehle an Struktur, an Methodik, an Systematik.

Und so fehle es seinen Schülern an Grammatik, Rechtschreibung, Verständnis. Dabei, so denken sie, haben sie doch ein Zertifikat über einen bestandenen Sprachtest in der Tasche – mit Stempel und Bundesadler. Das führt zu Frustration.

Das BAMF verweist angesichts der harten Kritik auf die „strikten Qualitätsvorgaben“, die Anbieter von Integrationskursen und Lehrkräfte einhalten müssten. Dies werde „durch regelmäßige, unangekündigte Vor-Ort-Kontrollen sichergestellt“.

Seit 2012 habe das Bundesamt mehr als 15.000 Kurs- und Verwaltungsprüfungen durchgeführt. 2017 seien 8,6 Prozent der Integrationskurse und 33 Prozent der Träger überprüft worden. Lediglich in sieben Fällen sei die Zulassung widerrufen oder abgelehnt worden.

Solch stichprobenhaltige Überprüfungen aber reichen nicht aus. Das eigentliche Problem sei auch hier ein viel grundsätzlicheres, sagt Politologe Oltmer: „Die Sprachkurse des BAMF wurden zuletzt 2006 evaluiert, durch das Bundesinnenministerium. In den vergangenen zwölf Jahren hat niemand in größerem Maß das Sprachkursprogramm überprüft. Niemand weiß also, ob es für die heutigen Bedürfnisse überhaupt noch das richtige ist.“ 2006 kam der Großteil der Kursteilnehmer noch aus EU-Staaten.

Auch die Mitarbeiter des BAMF merken, dass ihre Aufgabe undankbarer nicht sein kann. „Das BAMF als Marke ist ruiniert“, sagt Sprachschulbesitzer Borkam. Egal, was die Mitarbeiter der Behörde tun – recht machen sie es im Moment kaum einem.

In der Abteilung für Integration beim BAMF arbeiteten 2017 gut 800 Mitarbeiter. 800 Mitarbeiter für das so wichtige Thema Integration – bei gut 7000 Vollzeitstellen ist das etwas mehr als jede neunte Stelle. Zu wenig, sagen Kritiker.

Die Stimmung in der Behörde sei entsprechend schlecht, erzählt ein Kenner. Lange ungeliebtes Kind der Politik, soll die Behörde nun ausbügeln, wofür sich viele zu spät interessiert haben. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise ist das BAMF schnell und unkontrolliert gewachsen, der Druck, die Bearbeitungszeiten der Asylfälle zu verkürzen, sei enorm gewesen, heißt es. Dabei habe es an gutem Personal gefehlt; neue Mitarbeiter seien zu kurz eingearbeitet worden.

Wenig Orientierung am Arbeitsmarkt

Bei seinem Antrittsbesuch im April war auch Innenminister Horst Seehofer (CSU) aufgefallen, dass einiges schlecht läuft in Nürnberg – noch bevor die Affäre um die Bremer Außenstelle des BAMF öffentlich wurde. Doch schon damals monierte Seehofer die mangelnden Kontrollen, registrierte Nachholbedarf bei der Verbesserung von Qualität und Effizienz der Integrations- und Sprachkurse. Als ersten Schritt sagte Ende Juni der Bund 1650 zusätzliche Stellen für das BAMF sowie die Entfristung von knapp 4500 Stellen zu.

Weil die Kurse des BAMF nicht zum gewünschten Ergebnis führen, sind viele Unternehmen mittlerweile dazu übergegangen, sich selbst um Flüchtlinge zu bemühen und sie zu schulen. Etwa die bayerische Max-Aicher-Gruppe, die unter anderem in der Bau- und Stahlindustrie tätig ist.

Sie unterstützt gemeinsam mit der Caritas das Sprachlernprogramm „Deutsch vom ersten Tag an“ für Flüchtlinge in Bad Reichenhall und Freilassing. „Es ist gescheiter, 2000 Lehrer zu beschäftigen für den Deutschunterricht, als 2000 Polizisten zur Bewachung der Flüchtlinge“, sagt Max Aicher, Vorstand der gleichnamigen Stiftung, der die Gruppe gehört. Mittlerweile haben etwa 800 Flüchtlinge das Programm durchlaufen.

Oder Thyssen-Krupp. Bei dem Essener Konzern arbeiten mehr als 500 Flüchtlinge. Im September 2015 startete Thyssen-Krupp das Projekt „we.help“, 2016 war der Konzern Gründungsmitglied der Initiative „Wir zusammen“, in der sich Unternehmen für die Integration von Flüchtlingen engagieren. Seitdem hat Thyssen-Krupp mehr als 400 Praktika und 110 Ausbildungsplätze für Geflüchtete geschaffen. Bis Ende des Jahres sollen noch 40 Azubis dazukommen.

„Die Geflüchteten sind für uns als Unternehmen eine große Bereicherung“, sagt Susanne Grube, die für die Konzernausbildung verantwortlich ist. Voraussetzung für einen Ausbildungsplatz sind Deutsch auf B2-Niveau, ein Schulabschluss auf Realschulniveau sowie eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen – die auch befristet sein kann. Für ein Praktikum muss das Deutsch noch nicht perfekt sein, aber Englisch sollte auf B2-Niveau sein. Dazu ist eine Arbeitserlaubnis Pflicht.

Oder Vaude. Von 45 Mitarbeitern in der „Manufaktur“ des Outdoor-Ausrüsters sind sieben Geflüchtete, insgesamt sind es im Unternehmen zwölf, nur fünf haben einen gesicherten Aufenthaltsstatus. „Wir sind hier ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Auch bei uns gab es anfänglich kritische Stimmen und Sorgen“, sagt Unternehmenschefin Antje von Dewitz. „Wir haben uns intensiv bemüht, Integration erfolgreich zu gestalten, indem wir Sorgen ernst genommen und Unterstützungsangebote entwickelt haben.“

So habe das Unternehmen gezeigt, dass Integration machbar ist und als Mehrwert empfunden wird. Die Unternehmer seien 2015 von der Kanzlerin in die Verantwortung genommen worden und dem gern gefolgt. „Wir haben integriert, was das Zeug hält“, sagt die 45-Jährige. „Aber dann eine Situation politisch so ungelöst und kontraproduktiv für alle Beteiligten zu lassen ist fahrlässig.“

Anfang des Jahres hat von Dewitz sich mit dem Allgäuer Brauereichef Gottfried Härle zusammengetan und die „Initiative für Bleiberecht für Geflüchtete in Arbeit und Ausbildung“ gegründet. Mehr als 100 Unternehmen aus Baden-Württemberg haben sich ihr schon angeschlossen.

„Die meisten Flüchtlinge haben keine Ahnung, wie Arbeiten in Deutschland funktioniert. Wie melde ich mich krank? Wie nehme ich Urlaub?“ Auch solch praktische Dinge müssten vermittelt werden. Vaude führte Deutschkurse im Unternehmen ein, Mitarbeiterpatenschaften und erstellte einen Leitfaden für die Einarbeitung der Geflüchteten.

„Die Klärung des Aufenthaltsstatus dürfte im Idealfall nicht länger als drei Monate dauern“, fordert von Dewitz. In der Zwischenzeit dürfte der Flüchtling dann zwar nicht arbeiten, könnte aber schon mit Deutsch- und Werteunterricht anfangen.

Problem: unsicherer Aufenthaltsstatus

Die Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gehen anhand früherer Erfahrungen davon aus, dass nach fünf Jahren etwa die Hälfte der Flüchtlinge einen Job gefunden hat. Nach 15 Jahren sollen es dann 70 Prozent sein. Gemessen daran liege man im Plan oder sogar etwas darüber, sagt der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele: „Im Rahmen dessen, was wir erwarten durften, sind wir eher etwas erfolgreicher, als wir dachten.“

So hatten im März bereits 223.000 Menschen aus den Hauptherkunftsländern der Geflüchteten eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefunden – 60 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Hinzu kommen 66.000 Minijobber. Etwa 28.000 Flüchtlinge sind in Ausbildung, ähnlich viele auf der Suche nach einer Lehrstelle.

Doch Peter Clever, der für die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) im Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit sitzt, beklagt, dass die Drei-plus-zwei-Regelung nach wie vor sehr unterschiedlich gehandhabt werde. Sie besagt, dass Flüchtlinge mit einem Ausbildungsplatz während der dreijährigen Lehre und einer zweijährigen Anschlussbeschäftigung nicht abgeschoben werden. In einzelnen Bundesländern, etwa in Bayern, würden aber weiter auch Flüchtlinge abgeschoben, die eigentlich davor geschützt sein sollten, sagt Clever. Auch hier brauche es dringend Lösungen.

Vor einer Abschiebung hat Firas Al Sehnawi erst einmal keine Angst mehr. Sein Asylantrag ist nach der Klage endlich durch. Er selbst will auf jeden Fall dauerhaft in Deutschland bleiben. Er wäre auch ohne Krieg gekommen, sagt er: „Ich liebe klassische Musik und die Philosophie. Es war schon als Kind mein Traum, nach Deutschland zu gehen.“

Bei seiner Einreise vor zweieinhalb Jahren hätte er jedoch nicht gedacht, dass vieles so langsam vorangeht, er so oft auf Behörden warten muss.

Immerhin hat er jetzt seine eigene Wohnung, kann sein Leben selbst in die Hand nehmen, in Ruhe lernen. Vielleicht wird ja auch ein anderer Traum wahr: „In zwei Jahren bin ich vielleicht so weit, Hegel auf Deutsch zu lesen.“ Wenn ihm neben dem Job dafür dann noch Zeit bleibt. Denn sobald wie möglich will Al Sehnawi unbedingt wieder im Controlling arbeiten – in Deutschland natürlich.