Das große Interview mit Daniel Stelter - Top-Ökonom: „Wir reden über 15 Euro beim Bürgergeld – das ist einfach Quatsch“
Deutschland streitet sich über wenige Euro beim Bürgergeld, die Politik verliert sich in immer kleinteiligeren Gesetzen - ein Irrsinn, sagt der Ökonom Daniel Stelter. Im zweiten Teil des großen Interviews mit Stelter verrät er gegenüber FOCUS online, wie Deutschland wirtschaftlich wieder Spitze wird. Doch dafür wird ein gewaltiger - und unpopulärer - Deal notwendig sein.
FOCUS online: Herr Stelter, es scheint, als brauche es jetzt einen großen Wurf aus der Politik, um die Firmen davon abzuhalten, Deutschland zu verlassen.
Stelter: Es kommen ja noch andere Faktoren hinzu. Das Bildungssystem produziert zu viele Akademiker, die irgendwelche unnützen Fächer studieren, und zu wenige Menschen, die eine Berufsausbildung machen und Solarpaneele auf Dächern installieren können.
Noch dazu geht meine eigene Generation – ich bin Jahrgang 64 – bald in Rente. Wir haben nicht mehr groß „Bock“, etwas zu tun. Das macht eine Gesellschaft veränderungsunwillig.
Einige sagen nun, der Staat darf jetzt nicht sparen. Es braucht Investitionsprogramme, Konjunkturhilfen, Sonderabschreibungen für den Bau – ganz einfach. Aber wir reden hier nicht über Konjunkturprobleme, sondern von strukturellen Problemen. Allein, die Größe der Erwerbsbevölkerung stabil zu halten, ist schon eine massive Herausforderung.
FOCUS online: Also würde es nichts bringen, jetzt konjunkturpolitisch einzugreifen? Welche Alternative hätte die Ampelkoalition dann überhaupt noch, welche hätte jede künftige Regierung?
Stelter: Wir dürfen auf keinen Fall Konjunkturpolitik machen! Das wäre nichts als ein Strohfeuer. Wir überwinden die konjunkturelle Krise, die wir momentan haben, wenn wir glaubhaft machen, dass wir die strukturellen Themen angehen.
Dann sagen Investoren: Super, Deutschland packt an, hier investieren wir. Dann sagen die Verbraucher: Super, ich habe Vertrauen ins Land, weil etwas passiert. Das bringt viel mehr, als ein paar Milliarden in die Bauwirtschaft zu kippen.
Wir müssen glaubhaft machen: Das ist unser Weg – bei den Energiekosten, bei der Regulierung, bei den Steuern und Abgaben, und das sind unsere Maßnahmen, um Menschen länger im Arbeitsleben zu halten. Mit einer Steuerbefreiung beispielsweise. Anreize setzen, statt bestrafen.
FOCUS online: Längere Arbeitszeiten, ein besseres Bildungssystem, schön und gut, aber auch hier stellt sich die Frage nach der Finanzierung. Also sind doch wieder Staatsinvestitionen, in irgendeiner Form, nötig.
Stelter: Ja, natürlich.
FOCUS online: Aber wie genau soll das klappen, insbesondere bei der brisanten Haushaltslage des Bundes? Bräuchte es nicht sogar eine Regierung, die sich nicht streitet, damit der Haushalt wieder „funktioniert“?
Stelter: Da widerspreche ich. Ein Haushalt, der „funktioniert“, ist nicht ein Haushalt, der Probleme löst. Bei der Großen Koalition hat der Haushalt ja funktioniert, aber er hat keine Probleme gelöst. Das habe ich damals selbst geschrieben: „die Schwarze Null ist eine Lüge“.
Der Staat hat damals nicht gespart, wie die Sozialausgaben dieser Jahre deutlich zeigen. Und obwohl die Koalition damals im Geld schwamm – dank Mario Draghi –, hat sie sich gegen Investitionen entschieden.
Was mich bei dieser Debatte heute stört: Es wird oft gesagt, es mangele am Geld. Das stimmt nicht, es mangelt an der Allokation des Kapitals. Nur, weil ich der Regierung mehr Verschuldungsspielraum gebe, heißt das nicht, dass die Gelder dann auch effektiv genutzt werden.
Nehmen wir beispielsweise das Thema Bildung. Seit 20 Jahren werben die Parteien damit, mehr in Bildung investieren. Am Ende wird’s dann nicht gemacht. Das heißt nicht, dass wir nicht Schulden machen dürfen oder sollen. Am besten über Sondertöpfe, mit den entsprechenden Instrumentarien, damit die Gelder nicht zweckentfremdet werden. Trotzdem löst Geld allein die Probleme nicht.
FOCUS online: Was fehlt, neben der Finanzierung?
Stelter: Sagen wir mal, wir nehmen jetzt ganz viel Geld für das Schienennetz in die Hand. Dann folgt direkt die Frage: Wer plant das, wer baut das? Das heißt, wir bräuchten eine Politik, die sich verpflichtet, nachhaltig, auf 20 Jahre hinaus, ein Ausgabenniveau zu halten.
Denn bei solchen Projekten müssten die Architektur- und Baufirmen die Mitarbeiter einstellen, ausbilden, und vorhalten. Und das mit einer Aussicht auf zehn Jahre. Das geht ja nicht. Nach der nächsten Wahl sagt die neue Regierung schlimmstenfalls, dieses Projekt wollen wir nicht mehr.
Das heißt, wir brauchen eine Verstetigung in der Politik. Deswegen bin ich ein wenig misstrauisch, was die Politik angeht. Es ist fast egal, um welche Partei es geht – die Gelder sind da, werden aber tendenziell für die falschen Dinge ausgegeben.
Auf der anderen Seite müssen wir die Widerspruchskultur auflösen. Denken Sie etwa an Stuttgart 21 – wer hat dagegen demonstriert? Eher ältere Bürger. Die Leute, die den Baulärm haben, aber den Nutzen des Projekts nicht mehr erleben werden. Der Anteil der Menschen dieser Gruppe in Deutschland steigt aber an. Das heißt, es wird alles noch mühsamer.
FOCUS online: Was Sie hier skizzieren, wirkt wie eine ausweglose Situation. Gibt es keine konkreten Schritte, die jetzt unternommen werden könnten?
Stelter: Doch, die gibt es. Ich habe einen konkreten Vorschlag. Deutschland hat offiziell eine Staatsverschuldung von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Inoffiziell haben Ökonomen wie Bernd Raffelhüschen errechnet, ist die Verschuldung viel höher.
Wir sollten uns, meiner Meinung nach, für Investments höher offiziell verschulden und im Gegenzug die „verdeckte Verschuldung“ abbauen. Das heißt: Versprechen wieder einkassieren. Rentenansprüche. Zusatzansprüche an die Kassen. Und so weiter.
Dann hätten wir höhere laufende Schulden, könnten aber Steuern und Abgaben senken und investieren. Dafür müssten wir sagen: Tut uns leid, ältere Mitbürger, aber wir müssen alle bis 67 arbeiten. Und bei der Krankenkasse gäbe es dann mehr Leistungen, die selbst bezahlt werden müssten.
Das ist sehr unpopulär, und wird deswegen nicht gemacht. Stattdessen eiern die Politiker weiter rum.
FOCUS online: Stichwort Steuern und Abgaben – gibt es hier nicht auch Stellschrauben für den Haushalt? Oder vielleicht auch beim heiß debattierten Bürgergeld?
Stelter: Die Programme, um Bürgergeld-Empfänger aus- und weiterzubilden, haben leider einen stark beschränkten Erfolg. Will man die Menschen wieder in Arbeit kriegen, geht es weniger ums Absenken des Bürgergelds, sondern eher um diesen Übergang. Und da ist die Grenzbelastung zu hoch. Deswegen arbeiten die Empfänger lieber schwarz.
Generell ist die Belastung in Deutschland im unteren Einkommensbereich eh schon viel zu hoch. Also müsste man das ganze System umbauen. Man könnte dann auch noch die Reichen mehr belasten, aber hier ist das Problem, dass es davon gar nicht so viele gibt.
Die meiste Umverteilung findet ohnehin in der Mitte statt, das müsste man lassen. Besser wäre, den Bedürftigen mehr zuzugestehen und den Übergang aus der Erwerbslosigkeit in den Arbeitsmarkt attraktiver zu gestalten. Aber auch hier ist die Frage: Welche Politiker würden sich das trauen?
FOCUS online: Wenn die Bürger nun nachvollziehbarerweise nicht gegen ihre eigenen Interessen stimmen, wie beispielsweise ein höheres Renteneintrittsalter, wie kommt Deutschland dann aus dieser Gemengelage heraus?
Stelter: Das frage ich mich auch oft. Ich denke dennoch, dass es über den Abbau der verdeckten Schulden klappen kann – mehr offizielle Schulden, und ein richtiges Reformprogramm für die Masse mit weniger Abgaben. Vielleicht auch mit höheren Steuern für Reiche oder auf Erbschaften. Und damit ein wenig mehr Gerechtigkeit.
Im Gegenzug gehen wir die genannten Probleme an. Das müsste der große Deal sein. Stattdessen reden wir über 15 Euro beim Bürgergeld – das ist irre, das ist einfach Quatsch. Die Politik verliert sich in dieser kleinteiligen Komplexität.
Wenn wir genau das angehen, mit einem späteren Renteneintritt und mit weniger Rente, dafür aber noch mit einem Alterssicherungsfonds, wie es sie beispielsweise in Skandinavien zur Altersvorsorge gibt, dann können sich die jungen Bürger auch darauf einstellen, und sich vorbereiten. So müssen wir diese großen Themen angehen.
Sonst wird sich der Niedergang, zumindest relativ zu anderen Regionen, fortsetzen. Das wird man hier nicht so spüren, aber wer dann mal im Ausland urlaubt, wird sehen, wie es ist, wenn man schnelles Internet oder ein lückenloses Mobilfunknetz hat und digitalisierte Behörden.
Ein Nebeneffekt des Niedergangs wird übrigens eine steigende politische Unzufriedenheit sein, und eine immer größere politische Fragmentierung. Dann wird es noch viel schwieriger, das Land zu sanieren.
FOCUS online: Zum Abschluss – was würden Sie jetzt den Jüngeren raten, welche die Folgen des Strukturwandels noch am ehesten spüren werden, im Guten wie im Schlechten?
Stelter: Definitiv eine gescheite Ausbildung, ein gutes Studium, in den Naturwissenschaften. Und: Über Deutschlands Grenzen hinweggucken, auf Länder mit besseren Perspektiven, so leid es mir tut, das zu sagen.
Und wer bleiben möchte, sollte sich engagieren, dass doch etwas passiert. Entweder gehen oder für Verbesserungen kämpfen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute kämpfen.