Großer Überblick - Wie sich nach Assad-Sturz die Machtverhältnisse im Nahen Osten verändern

Syrer schießen nach dem Sturz des Assad-Regimes in die Luft.<span class="copyright">Ugur Yildirim/DIA Photo/AP/dpa</span>
Syrer schießen nach dem Sturz des Assad-Regimes in die Luft.Ugur Yildirim/DIA Photo/AP/dpa

Experten sind sich sicher: Nach Assads Sturz in Syrien werden sich die Kräfteverhältnisse im ganzen Nahen Osten verändern. Doch wer profitiert jetzt, wer verliert an Einfluss? Wie stark sind die entscheidenden Akteure aktuell militärisch und politisch? Ein Überblick.

Nach dem Sturz des Assad-Regimes sortieren sich die Machtverhältnisse in Syrien neu – und damit möglicherweise im ganzen Nahen Osten. Noch ist nicht klar, wer am Ende tatsächlich Gewinner und Verlierer sein wird. Doch ein Vergleich von militärischer Stärke und politischem Einfluss zeigt, wie künftig die neuen Kräfteverhältnisse in Nahost sein könnten.

Syrien: Ein Land im Umbruch und ohne Armee

Zwar befindet sich Syrien schon seit Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 im Chaos. Doch solange Präsident Baschar al-Assad noch ein Stück zentrale Staatsgewalt ausüben konnte, war zumindest das strategische Ziel klar: Allerlei Mächte sollten aus Syrien vertrieben werden. Die regierungskritischen Rebellen, der Islamische Staat und auch Israel. Das Land hält nämlich seit dem Sechstagekrieg 1967 die Golanhöhen unter seiner Kontrolle. Eine Rückgewinnung hatte für die syrischen Machthaber stets oberste Priorität.

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Trotz Unterstützung von Russland, dem Iran und der Hisbollah im Libanon rieb sich die Assad-Armee immer mehr auf – bis zum Ende des Regimes am 8. Dezember. Vom staatlichen Militär ist nun kaum etwas übriggeblieben. Fast alles, was nicht zuvor schon im Kampf zerstört wurde, hat Israel mit gezielten Schlägen nach dem Assad-Sturz beseitigt. Laut israelischen Militärangaben wurden 80 Prozent der syrischen Militärkapazitäten an 480 Zielen ausgeschaltet.

 

Die Stärke der künftigen syrischen Machthaber – wer auch immer das genau sein wird – hängt von drei Faktoren ab. Erstens davon, was in den staatlichen Militärbeständen übriggeblieben ist. Trotz der israelischen Angriffe könnten noch gefährliche Chemiewaffen in Syrien lagern. Fallen sie zum Beispiel Islamisten in die Hände, könnten sie damit im Nahen Osten großen Schaden anrichten.

Zweitens hängt die künftige militärische Stärke daran, welche eigenen Waffen und Truppen die neuen Machthaber mitbringen. Derzeit scheint die sich gemäßigt gebende Rebellengruppe Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) die Kontrolle zu übernehmen. Wie viele Kämpfer und militärisches Gerät sie kontrollieren, ist unklar.

Der dritte Faktor ist ein politischer. Schafft HTS das Land zu einen ? Und wenn es gelingen sollte: Mit welchen Verbündeten wird man zusammenarbeiten? Die bisherige Achse des Bösen mit dem Iran und der Hisbollah ist zerbrochen. Dafür unterstützte die Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Rebellen beim Sturz Assads. Unter diesem Bündnis könnten unter anderem die Kurden in Syrien leiden.

Türkei: Machtgewinn durch HTS, Gefahr für Israel

Erdoğan verfolgt vor allem zwei Ziele, die nach dem Assad-Sturz einfacher zu erreichen sein dürften: Zum einen sollen kurdische Milizen geschwächt werden, denn sie betrachtet der Präsident als Terrororganisationen. Zum anderen sollen die zahlreichen syrischen Flüchtlinge aus der Türkei in ihre Heimat zurückkehren, um Erdoğan innenpolitisch zu entlasten.

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Wie Russland eine Schutzmacht für Assad war, könnte die Türkei deshalb zur Schutzmacht der Rebellenregierung um HTS werden. Zum einen kann das gelingen, in dem HTS und die Türkei gemeinsam gegen die Kurden vorgehen. Tatsächlich lässt Erdoğans Armee deren Stellungen seit dem Assad-Sturz täglich bombardieren. Zum anderen ist Syrien wirtschaftlich eng mit der Türkei verknüpft. Erdoğan kann so gezielt ihm genehme Kräfte fördern und syrische Unternehmer von sich abhängig machen.

Wenn die Türkei ihren politischen Einfluss in der Region ausbaut, dürfte das einer anderen Großmacht nicht gefallen: Israel wurde vom türkischen Präsidenten seit Beginn des Gaza-Kriegs mehrfach scharf angegangen, er brachte sogar ein militärisches Eingreifen ins Spiel. Ein offener Krieg zwischen den beiden Staaten ist derzeit zwar nicht besonders wahrscheinlich. Aber dennoch ist die Türkei eine potenzielle Bedrohung für Israel.

 

Die Türkei könnte es nämlich tatsächlich militärisch mit Israel aufnehmen, sie besitzt sogar mehr aktive Soldaten. Zu Land und zur See ist die Türkei überlegen, Israel nur in der Luft. Erdoğans Armee ist laut Global Firepower Index die stärkste Region, weltweit liegt sie sogar auf Rang acht.

Israel: Chancen und Risiken zugleich

Für Israel ist die Lage in Syrien Chance und Risiko zugleich. Man hatte sich trotz des Konflikts um die Golanhöhen mit dem Assad-Regime so arrangiert, dass es zumindest keinen offenen Krieg gab. Assad galt – im Gegensatz zu den islamistischen Rebellen – stets als berechenbar.

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Chaos mit unklarem Ausgang in dem Nachbarland ist deshalb zunächst beunruhigend für Israel. Sollte sich die Situation nicht im Interesse Israels ordnen, könnte eine weitere kräftezehrende Front entstehen. Denn nach wie vor sind zahlreiche Streitkräfte im Kampf gegen die Hamas im Gaza-Streifen und gegen die Hisbollah im Libanon gebunden.

Israel könnte aber das gemäßigte Auftreten von HTS und die Sehnsucht der syrischen Bevölkerung nach Frieden ausnutzen, um sich mit den Rebellen gut zu stellen – sofern das trotz der islamistischen Ideologie möglich ist. Noch wichtiger ist für Israel, dass von den neuen Machthabern in Syrien keine direkte Gefahr ausgeht. Dieses Ziel hat man vorübergehend erreicht, indem man die militärischen Bestände in Syrien durch einen Vorstoß bis kurz vor Damaskus und durch hunderte Luftangriffe weitgehend zerstört hat. Zudem hat Israel das besetzte Gebiet auf den Golanhöhen als „Pufferzone“ erweitert.

Indem Israel die Hisbollah und den Iran geschwächt hat, hat es selbst indirekt zum Sturz des Assad-Regimes beigetragen – der wiederum eine weitere Schwächung von Israels Erzfeinden bedeutet. „Ich verändere das Gesicht des Nahen Ostens, so wie ich es versprochen habe“, sagte der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu deshalb zur aktuellen Lage. Sein Land nehme nun „die iranische Achse Stück für Stück auseinander“.

 

Ohnehin ist Israel militärisch nach wie vor eine Großmacht in der Region. Die Verteidigungskräfte (IDF) gelten als die modernsten der Welt. Vor allem im Vergleich zur Größe des Landes und der Bevölkerungszahl ist die Armee extrem gut ausgestattet. Israel könnte im Ernstfall zudem auf einen großen Pool von Reservisten zurückgreifen. Rund 23 Milliarden Euro sieht die Regierung unter Regierungschef Benjamin Netanjahu für die Streitkräfte vor.

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Neben der Luftabwehr – unter anderem mit dem System Iron Dome gegen Kurzstreckenraketen – ist Israel auch in der hybriden Kriegsführung gut aufgestellt. Außerdem ist es ein offenes Geheimnis, dass Israel als einzige Macht in der Region über Atomwaffen verfügt.

Iran: Flexibilität für den eigenen Machterhalt

Militärisch ist der Iran immer noch eine Großmacht. Rein zahlenmäßig ist der Iran was etwa Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie abgeht Israel überlegen. In der Luft sehen die Verhältnisse dagegen umgekehrt aus, Israel hat etwas mehr Flugzeuge zur Verfügung als der Iran. Insgesamt sieht der Global Firepower Index die iranische Armee als die Nummer 14 der stärksten der Welt, Israel liegt hingegen auf Platz 17.

 

Allerdings fällt der Iran sowohl militärisch als auch politisch zurück: Das Kriegsgerät ist Experten zufolge teilweise nicht einsatzbereit, zudem hinkt das Land im Vergleich zu Israel technologisch hinterher. Politisch hat man mit Assad einen Verbündeten verloren, mit der Hisbollah wurde ein weiterer geschwächt. Geopolitisch hat der Iran nun eine wichtige Route verloren: Über Syrien kann keine Ausrüstung mehr an die Hisbollah im Libanon gebracht werden.

Möglicherweise könnte das dazu führen, dass der Iran sich nun wieder verstärkt darauf konzentriert, auf andere Weise einen Vorteil zu ergattern: mit einer Atombombe. Das iranische Nuklearprogramm wurde immer wieder ausgeweitet – angeblich nur zur Energiegewinnung in Atomkraftwerken. Doch die Aktivitäten des staatlichen Atomprogramms machen diese Behauptung unglaubhaft. Sollte es dem Iran gelingen, tatsächlich zeitnah eine Atombombe zu bauen, würde das die Existenz Israels massiv bedrohen und das gesamte Sicherheitsgefüge im Nahen Osten verändern.

Bis dahin muss sich der Iran mit den neuen politischen Gegebenheiten arrangieren. In den vergangenen Jahren bezeichneten die Mullahs in Teheran die syrischen Rebellen stets als Terroristen. Kurz vor dem Sturz des Assad-Regimes veränderte sich allerdings die Tonlage: Im Rundfunk des Iran war nur noch von „bewaffneten Kräften der syrischen Opposition“ zu hören. Wie auch Russland zeigt die iranische Regierung Flexibilität, wenn es um den eigenen Machterhalt geht.

Libanon: Staat liegt am Boden, die Hisbollah ebenfalls

Der Libanon als Staat ist kaum noch ein Faktor im Nahen Osten. Die offizielle Regierung ist geschwächt, die Wirtschaft steht am Abgrund. Die Armee liegt laut Global Firepower Index nur auf Rang 118 weltweit.

Bis vor kurzem war deshalb die Terrormiliz Hisbollah tonangebend. Sie verfügte über weit mehr als 100.000 Raketen verschiedener Typen. Die islamistische Gruppe ist nun aber selbst geschwächt nach den israelischen Angriffen auf ihre Führer. Das war auch ein Grund, warum man das Assad-Regime in seinen letzten Tagen nicht mehr unterstützen konnte.

 

Relevant ist der Libanon im Moment vor allem deshalb, weil dort rund 1,2 Millionen Syrer Zuflucht gesucht hatten. Die hohe Zahl konnte das wirtschaftlich schwache Land kaum verkraften. Kehren die Flüchtlinge zurück, würde das den Libanon etwas entlasten.

Gaza-Streifen: Hamas gratuliert überraschend den Syrien-Rebellen

Wie das Assad-Regime war auch die Hamas, die unter anderem im Gaza-Streifen aktiv ist, Teil der Achse des Bösen. Dennoch hat die Hamas einen Tag nach dem Sturz der Regierung dem syrischen Volk zur Befreiung gratuliert. In einer Erklärung heißt es, die Hamas hoffe, dass Syrien nach Assad „seine historische und zentrale Rolle bei der Unterstützung des palästinensischen Volkes“ fortsetzen werde.

Die Strategie dahinter ist unklar. Möglicherweise will man die neuen syrischen Machthaber auf seine Seite ziehen und gegen Israel aufhetzen – was angesichts der militärischen Lage in Gaza dringend notwendig wäre. Früher schätzten einige Quellen die Zahl der Hamas-Kämpfer auf 15.000, während andere Berichte, die alle militärischen, paramilitärischen und polizeilichen Einheiten unter ihrer Kontrolle berücksichtigen, von 40.000 bis 50.000 Kämpfern ausgehen. Viele davon sind allerdings während der israelischen Gaza-Offensive gefallen. Zudem ist auch die Führung der Hamas nach tödlichen Angriffen Israels geschwächt.

Islamischer Staat: Befreite Kämpfer könnten neue Terrorzellen bilden

War der Islamische Staat (IS) 2014 noch Herrscher über weite Teile im Nordosten Syriens, hat er heute keinen entscheidenden Einfluss mehr im Land. Dennoch ist er als weiterer Akteur in der Region eine große Unbekannte. In syrischen Gefängnissen sitzen zahlreiche IS-Kämpfer. Kommen sie im aktuellen Chaos frei, könnten sich neue Terrorzellen bilden, die die Lage ausnutzen könnten. Allerdings gäbe es zahlreiche Kräfte, die das unbedingt verhindern wollen.

Fazit: Neue Zweck-Arrangements und Feindschaften

Die beiden Nahost- und Sicherheitsexperten Natasha Hall und Joost Hiltermann schreiben im „Journal für Internationale Politik“ zu den Folgen des Syrien-Chaos: „Assads Sturz macht deutlich, wie eng und unkalkulierbar die verschiedenen Konflikte in der Region miteinander verwoben sind und was passieren kann, wenn sie vernachlässigt oder als Normalität hingenommen werden.“ In Syrien sei durch die jüngste Erschütterung „das Ende der bisherigen Ordnung“ herbeigeführt worden, es sei gewiss, „dass die Kräfteverhältnisse in der Region sich durch Assads Ende gründlich verändern werden“.

Das liegt weniger an Veränderungen der militärischen Stärke: Zwar hat Israel Syriens staatliches Militär weitestgehend zerstört und zuvor schon den Iran und die Hisbollah geschwächt. Im Großen und Ganzen bleibt aber klar: Israel und die Türkei gefolgt vom Iran bleiben die Länder mit den stärksten Armeen in der Region.

Die Umwälzungen liegen vor allem daran, dass alte Bünde zerbrochen sind und sich nun langsam neue Zweck-Arrangements und Feindschaften ausbilden. Israel könnte einer der Profiteure sein, ebenfalls die Türkei. Allerdings wird sich viel daran entscheiden, wer in Syrien wirklich die Macht übernehmen wird und wie geeint das Land sein wird.