Großer Abschlussbericht vorgelegt - USA haben Corona „aufgearbeitet“ – was wir daraus lernen können

Was können wir aus dem Corona-Abschlussbericht der USA lernen?
Was können wir aus dem Corona-Abschlussbericht der USA lernen?

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben die Corona-Pandemie aufgearbeitet – und zwar, wenn man das so sagen darf, auf ziemlich amerikanische Art. Ein Bericht beklagt, ohne wissenschaftliche Grundlage seien die Freiheitsrechte der Bürger eingeschränkt, die Wirtschaft stranguliert und der Schulbetrieb lahmgelegt worden.

Zwei Jahre lang verwandelten die Volksvertreter den Saal 2154 des ehrwürdigen Rayburn House an der Südseite des Kapitols in eine Wrestling-Arena, in der man die jeweils andersdenkenden Politiker, Funktionäre und Wissenschaftler nach Herzenslust abwatschen, grillen und vors Schienbein treten durfte. Die besten Schlagabtausche gab es im Internet zu sehen, wo die elektrisierten Fans noch wochenlang über die coolsten Moves ihrer Favoriten und die Botches der Heels debattierten.

Nach 25 öffentlichen Anhörungen, 38 Einzelinterviews, über 100 schriftlichen Anfragen und dem Durchforsten von mehr als einer Million Dokumentenseiten hat der mit der Aufarbeitung der Pandemie beauftragte Ausschuss des Repräsentantenhauses, das Select Subcommittee on the Coronavirus Pandemic , jetzt den Abschlussbericht vorgelegt. Auf knapp 600 Seiten rechnen die Republikaner, die den Vorsitzenden und die Mehrheit der Ausschussmitglieder stellten, genüsslich mit den Maßnahmen- und Impfpflichtbefürwortern ab.

Wirtschaft stranguliert, Schulbetrieb lahmgelegt

Sie werfen dem scheidenden Präsidenten Joe Biden, der US-Seuchenbehörde CDC und der Weltgesundheitsorganisation WHO vor, ohne wissenschaftliche Grundlage die Freiheitsrechte der Bürger eingeschränkt, die Wirtschaft stranguliert und den Schulbetrieb lahmgelegt zu haben. Die Demokraten halten in einem Minderheitsvotum (60 Seiten) dagegen, dass die katastrophale Corona-Bilanz der USA vor allem dem bis Ende 2021 amtierenden Präsidenten Donald Trump zuzuschreiben sei, der die Gefahr kleingeredet und pseudowissenschaftlichen Unsinn verbreitet hatte.

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Mitten im US-Wahlkampf war von einer parlamentarischen, öffentlichen „Aufarbeitung“ der Pandemie eigentlich nichts Gutes zu erwarten – wenn man vom Unterhaltungswert der hitzigen, schonungslosen und mitunter durchaus intelligenten Wortgefechte der Kombattanten einmal absieht.

Der Corona-Bericht in 16 Punkten

Umso erstaunlicher ist es, dass der Ausschuss eine Reihe richtiger Feststellungen getroffen hat, die auch für uns bei der nächsten Pandemie relevant sein können. Wenn man den Pulverdampf des Gefechts und den Rauch der rhetorischen Nebelkerzen zur Seite bläst, das Hickhack um innenpolitische Schuldzuweisungen ausblendet und die beiden Berichte gemeinsam liest, stellt man sogar fest, dass sich die Streithähne in wesentlichen fachlichen Fragen einig geworden sind:

  • Reisebeschränkungen konnten die Ausbreitung der frühen Varianten von SARS-CoV-2 deutlich verzögern, wenn sie rechtzeitig angeordnet wurden. In den USA haben sie am Anfang der Pandemie zehntausende Erkrankungen verhindert.

  • Masken schützen vor Ansteckung, und zwar sowohl deren Träger als auch andere (wenn der Träger bereits infiziert ist). Allerdings ist dieser Schutz unvollständig und stark von der richtigen Anwendung sowie der Disziplin des Maskenträgers abhängig.

  • Die Ausbreitung des Pandemievirus in der Gesamtbevölkerung wurde durch eine allgemeine Maskenpflicht nicht messbar gebremst. Beispielsweise gab es keinen erkennbaren Unterschied zwischen Bundesstaaten mit und ohne Maskenpflicht. Dies lag unter anderem daran, dass die CDC und die Experten der Biden-Administration sich anfangs gegen Masken aussprachen oder sogar davor warnten und erst später ihre Empfehlungen geändert haben.

  • Mehrere Studien haben gezeigt, dass eine Maskenpflicht in bestimmten Situationen (z. B. Krankenhaus, Arbeitsplatz, Schule) die Infektionsrate signifikant senken kann. Allerdings ist der Schutz unvollständig und wurde nicht durch Fall-Kontroll-Studien untersucht. Die republikanischen Ausschussmitglieder stützten ihre Kritik an den Maskenmandaten insbesondere auf eine Cochrane-Analyse vom Januar 2023, die allerdings höchst umstritten ist (warum die Cochrane-Studie nicht gegen die Wirksamkeit von Masken spricht, habe ich hier erklärt).

  • Die Maskenpflicht in Kitas und Grundschulen hat mehr geschadet als genutzt. Die Masken-Empfehlung der CDC für Kinder (ab zwei Jahren) hat die psychosozialen Nachteile nicht ausreichend berücksichtigt.

  • Die ersten Lockdowns waren begründet und berechtigt. Allerdings hätte man spätestens nach einigen Wochen weniger einschneidende Maßnahmen treffen können, um die Ausbreitung des Virus zu bremsen und vulnerable Gruppen gezielter zu schützen.

  • Die Zurverfügungstellung von Covid-Tests für die breite Bevölkerung war ein wirksames und sinnvolles Instrument für die Bekämpfung der Pandemie.

  • Die Impfungen gegen Covid haben Millionen Menschenleben gerettet. Die von Donald Trump initiierte Operation Warp Speed hat zu diesem Erfolg beigetragen.

  • Die Lockerung der Auflagen für Geimpfte („vaccine passports“) kam einem willkürlichen Lockdown für Ungeimpfte gleich. Dies war wissenschaftlich unbegründet – insbesondere, weil auch Geimpfte das Virus übertragen können.

  • Die Bevorzugung Geimpfter gegenüber Genesenen war wissenschaftlich unbegründet und hat zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen (in den USA wurde der Genesenenstatus nicht als Alternative zur Impfung akzeptiert).

  • Unvollständige Information der Öffentlichkeit über die Risiken der Notfallzulassung der Covid-Impfstoffe (BioNTech, Moderna), möglicherweise übereilte endgültige Zulassungen und teilweise nicht wissenschaftlich begründete Empfehlungen zur Boosterung haben bei Teilen der Bevölkerung zu einer Skepsis gegenüber Impfungen beigetragen.

  • Die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen (Militär, Bundesbehörden, Betriebe ab 100 Mitarbeiter, Gesundheitseinrichtungen) war wissenschaftlich unbegründet und trug wesentlich zur Spaltung der Gesellschaft bei.

  • Die (seltenen) Nebenwirkungen der Covid-Impfungen wurden unvollständig erfasst und zu wenig erforscht. Die Betroffenen wurden nicht ausreichend entschädigt.

  • Die nationale Bevorratung von Medikamenten und Medizinprodukten für den Pandemiefall war ungenügend.

  • Die Abhängigkeit der Versorgung mit Medikamenten und Medizinprodukten von Importen, insbesondere aus China, birgt erhebliche Risiken für die nächste Pandemie.

  • Die Verfassung darf auch in Krisenzeiten nicht außer Kraft gesetzt werden. Gegenmaßnahmen dürfen nicht mehr Schaden anrichten als die Pandemie selbst.

Auch wenn diese Feststellungen ein eher grobes Raster bilden und viele Detailfragen offenlassen, gab es unter den – übrigens auffallend gut vorbereiteten – Ausschussmitgliedern am Ende kaum noch Dissens zu Fachfragen. Auf Deutschland sind die Erkenntnisse nur eingeschränkt übertragbar, weil sich die Art und Reihenfolge der staatlich angeordneten Maßnahmen, die medizinische Versorgung und die Dynamik der Pandemie von der Situation in den USA unterscheiden. Trotzdem könnte die (hier nur teilweise wiedergegebene) To-do-Liste des US-Ausschusses als Orientierung für eine parlamentarische Aufarbeitung der Pandemie in Deutschland dienen.

Was löste die Pandemie aus? Drei Möglichkeiten

Für internationale Schlagzeilen sorgte die Aussage des Berichts, das Pandemievirus SARS-CoV-2 sei wahrscheinlich („likely ) aufgrund eines Laborunfalls freigesetzt worden. Der Ausschuss hat dafür keine neuen Hinweise gefunden, sondern lediglich die bekannten – und seit Jahren kontrovers diskutierten –, unvollständigen Fakten noch einmal bewertet. Im US-Wahlkampf war dieses Thema heiß, weil die Republikaner der Biden-Administration vorwerfen, ein gefährliches Forschungsprojekt am Wuhan Institute of Virology (WIV) wissenschaftlich und finanziell unterstützt zu haben, bei dem das Pandemievirus entstanden sein könnte.

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Im Zentrum des Vorwurfs steht die private Forschungsorganisation EcoHealth Alliance (New York City), die gemeinsam mit dem Mikrobiologen Ralph Baric (North Carolina) sogenannte gain-of-function Experimente am WIV geplant und aus US-Steuermitteln finanziert haben soll. Gemäß einem im März 2018 eingereichten Forschungsantrag der EcoHealth Alliance wollte man Fledermaus-Coronaviren genetisch so verändern, dass sie an menschliches Lungengewebe andocken und dadurch für Menschen ansteckend werden. Falls solche Experimente dann tatsächlich am WIV durchgeführt wurden, was die chinesischen Behörden vehement bestreiten, könnte dabei (zufällig) ein Pandemieerreger wie SARS-CoV-2 entstanden sein.

Bemerkenswerterweise haben sich Demokraten und Republikaner, sowie deren jeweils als „Zeugen“ aufgerufene Experten, bezüglich der wissenschaftlichen Beurteilungen zum Ursprung der Pandemie weitgehend geeinigt. Das Virus kam demnach aus China und hatte seinen ersten großen Ausbruch unter Besuchern des Huanan Seafood Market in Wuhan. Auslöser könnte ein infiziertes Tier (etwa ein Marderhund oder eine Schleichkatze) oder ein infizierter Mensch gewesen sein. Die vorher notwendige Entwicklung des Fledermaus-Virus zu einem pandemietauglichen, für Menschen gefährlichen Erreger könnte in der Natur, in einer Tierzucht oder in einem Labor stattgefunden haben.

Von der Bewertung der Republikaner, dass die Laborthese wahrscheinlicher als die beiden anderen Szenarien wäre, haben sich die demokratischen Ausschussmitglieder distanziert. Man stimmte jedoch darin überein, dass bislang keine der drei Möglichkeiten bewiesen oder widerlegt sei. Deshalb dürfe auch ein Laborursprung der Pandemie nicht „als Verschwörungstheorie verurteilt“ werden, wie dies eine Gruppe von 27 Wissenschaftlern im März 2020 in einem öffentlichen Brief an die Fachzeitschrift „The Lancet“ getan hat. Die Mitglieder des Ausschusses waren sich zudem über die Parteigrenzen hinweg einig, dass die EcoHealth Alliance und ihr Präsident Peter Daszak (der auch einer der Unterzeichner des umstrittenen Lancet-Briefes war) nie wieder mit US-Steuermitteln gefördert werden dürften.

Es kamen auch fernliegende Argumente auf den Prüfstand

Trotz der Dominanz wahlpolitischer Themen (wie etwa der Frage, ob der Biden-Berater Anthony Fauci gelogen hat oder ob Donald Trump für die massiven Ausbrüche in Altersheimen verantwortlich war) diskutierte der Ausschuss bei vielen wissenschaftlichen Fragen auf hohem Niveau. Weil man neben dem Who-is-Who der amerikanischen Forschungselite auch deren Kritiker und sogar regelrechte Verschwörungstheoretiker eingeladen hatte, kamen auch fernliegende Argumente auf den Prüfstand. Am Ende siegte, jedenfalls bei den wissenschaftlichen Sachfragen, fast immer das bessere Argument.

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Die Aufarbeitung der Pandemie im Stile einer amerikanischen Wrestling-Veranstaltung ist gewiss nicht das, was man sich als Wissenschaftler wünschen würde. Vom Ergebnis her gesehen ist lautes Streiten auf offener Bühne jedoch allemal besser als Messerstechen hinter geschlossenen Türen. So gesehen können wir von der amerikanischen Demokratie – jedenfalls bisher – tatsächlich noch etwas lernen.

Übrigens hat es auch sein Gutes, dass das Select Subcommittee mit Blick auf den Wahltermin seine Arbeit vorher erledigt hat. Ob der nächste Kongress der USA – mit republikanischer Mehrheit in beiden Kammern, unter der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump und mit einem schwurbelnden Impfkritiker als designiertem Gesundheitsminister – die Pandemie weiter aufarbeiten würde, darf bezweifelt werden. Trump und seine Berater haben bereits angekündigt, Fauci und andere Befürworter der Corona-Maßnahmen vor Gericht stellen zu lassen.