Wie hätte "Relax" von Frankie Goes to Hollywood 1929 geklungen?

Berlin 1929, der Tanz auf dem Vulkan. Es ist jenes gedankliche Leitmotiv, das den inhaltlichen Reiz der Erfolgsserie "Babylon Berlin" ausmacht. Ein wichtiger Faktor für den Triumph der Serie ist ihre Musik. Nikko Weidemann und Mario Kamien haben sie sich ausgedacht.

Es war einer der ungewöhnlichsten und üppigsten Soundtrack-Jobs, die in Deutschland jemals vergeben wurden. Als Tom Tykwer vor einigen Jahren auf den Berliner Musiker Nikko Weidemann zukam, weil er jemanden suchte, der beim geplanten Mega-Serienprojekt "Babylon Berlin" für die Musik sorgt, ahnte der Angesprochene noch nicht, dass sich sein Leben daraufhin ändern würde. Mittlerweile ist die Filmband aus der Serie, das Moka Efti Orchestra, eine richtige Band, die erfolgreich tourt und am 14. Februar ihr Debütwerk "Erstausgabe" veröffentlicht. Dazu läuft die dritte Staffel von "Babylon Berlin" gerade bei Sky und im Oktober 2020 im Ersten. Warum die Serienmusik wie der Super-Hit "Zu Asche, zu Staub" niemals ein authentisches Abbild des Sounds der späten 1920-er sein sollte, sondern einen eigenen Kunst-Kosmos erschaffen wollte, erklären die Macher des 14-köpfigen Moka Efti Orchestra im Interview.

teleschau: War das Komponieren und Einspielen der Filmmusik zu "Babylon Berlin" ein besonderer Job?

Nikko Weidemann: Auf jeden Fall. Tom Tykwer, den ich von früheren Filmmusik-Aufträgen kannte, wollte vor allem On-Screen-Musik haben. Das heißt, es sollten richtige Musiker, keine Statisten in Musikerklamotten, während der Szenen auf der Bühne stehen und für den Sound des Films sorgen. Musik aus der Konserve steckte ja damals noch in ihren Anfängen. Dafür war die Stadt Berlin selbst voller Musik. An jeder Ecke, in jeder Kaschemme spielte jemand live. Deshalb war es gar nicht so schwer, Live-Musik in die Szenen zu integrieren. Weil wir etwa 30 Song-Vorschläge für die Serie schreiben sollten, holte ich Mario (Kamien, Anm. d. Red.) hinzu - alleine wäre dieser Soundtrack nicht zu schaffen gewesen.

teleschau: Hörte man denn damals in den 1920-ern noch keine Musik zu Hause?

Mario Kamien: Es gab natürlich selbst gespielte Musik - wer es konnte. Mancher hatte daheim einen Phonographen - da kam der Sound aus einem Trichter heraus und klang wie eine Tröte. Es war alles andere als Hi-Fi. Musiker waren in den 20-er-Jahren deshalb sehr angesehen. Sie wurden einfach gebraucht und als Edelhandwerker verehrt. In Berlin lebten damals Tausende von Musikern.

Weidemann: Berlin war zu dieser Zeit eine der größten und am dichtesten bevölkerten Städte der Welt. Die Leute arbeiteten zehn Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche. Wenn mal Freizeit angesagt war, wollte man auch richtig die Sau rauslassen, abfeiern - mit Musik natürlich. Es war insgesamt ein Wahnsinns-Druck auf dem Deckel. Das versucht ja auch die Serie zu transportieren.

"Wir haben 40 bis 60 Musiker gecastet, die live in den Szenen gespielt haben"

teleschau: Wie viel Zeit haben Sie während der Dreharbeiten auf der Bühne sitzend verbracht?

Kamien: Wir haben nicht mitgezählt, aber es war schon eine Menge Zeit. Wer von den Musikern, die wir fanden, wie lange auf der Bühne war, hängt von der Location ab. Es gibt natürlich das Tanzlokal Moka Efti, in der unsere jetzige Band die meiste Zeit auf der Bühne stand. Darüber hinaus spielen an den übrigen Orten andere Musiker: im Holländer, einer Art Transvestiten-Lokal, in der Eckkneipe oder auch in der Opium-Höhle, wo ein alter Musiker namens Guitar Crusher diese Blues-Sachen performt. Insgesamt haben wir 40 bis 60 Musiker gecastet, die live in den Szenen gespielt haben.

teleschau: Es gibt also keine Musiker, die mal hier, mal da auftauchen? Das wäre sicher billiger gewesen ...

Weidemann: Nein, das war ein No-Go. Tom Tykwer, Henk Handloegten und Achim von Borries hatten Vorbilder wie "Boardwalk Empire" im Kopf, als sie "Babylon Berlin" konzipierten. Dazu gehört, dass auch alle Details der Ausstattung stimmen und keine Ungereimtheiten auftreten, die dem fehlenden Geld geschuldet sind.

teleschau: Wie recherchierten Sie die richtigen Musikstile für die Serie?

Weidemann: Die Stilpalette war damals so reich, neu und offen wie die gesamte Kultur Berlins. Ich habe alte Filmaufnahmen von Josephine Baker und einer heißen schwarzen Jazz-Band aus dem Haus Vaterland im Berlin des Jahres 1930 gesehen. Natürlich gab es gleichzeitig auch den Sound von Friedrich Hollaender, Paul Lincke, Walter Kollo oder Willy Meisel. Das waren Gassenhauer, die man auf Ausflugsdampfern hörte. "Das ist die Berliner Luft" und so. Der Berliner Prolet stieg in seiner Freizeit in den Dampfer und fuhr von Wannsee nach Werder. Auch das war ein wichtiger Sound von damals, nicht nur Transvestiten-Revue und Jazz.

"Das Moka Efti ist sozusagen die 1929-Version des Technoclubs Berghain"

teleschau: Wie sehr war der Jazz in den 20-ern schon in Berlin angekommen?

Weidemann: Es war noch Avantgarde, aber er war da. 1925 tourte die erste "Negerrevue", wie das damals hieß, durch Europa. Es war eine Band rund um den Bandleader Sam Wooding. Er war der Erste, der mit einer schwarzen Band nach Deutschland kam. Sein Konzert im Metropol-Theater sah übrigens auch der junge Alfred Löw mit 15 Jahren. Er ging später nach New York und gründete unter dem Namen Alfred Lion das legendäre Blue-Note-Label.

teleschau: Welche Musikstile stecken im Soundtrack von "Babylon Berlin" drin?

Kamien: Es ging den Filmemachern nicht um ultimative Werktreue, was uns natürlich gut in den Kram passte. So konnte man der Kreativität freieren Lauf lassen. Ich respektiere alle, die sich vorgenommen haben, den Sound einer Zeit eins-zu-eins zu reproduzieren. Bei "Babylon Berlin" wollte das jedoch keiner. Wenn man den Titelsong "Zu Asche, zu Staub" hört, ist es doch klar, dass dieser Sound nicht aus jener Zeit stammen kann. Auch den Delta-Blues des Guitar Crushers in der Opium-Höhle gab es in dieser Form 1929 in Berlin sicher nicht. Aber das war uns allen egal.

teleschau: Gibt es einen Hintergrund für die lockere Einstellung gegenüber der Musik in der Serie? Wo doch beim Rest der Ausstattung so großer Wert auf ein korrektes Zeitbild gelegt wird ...

Weidemann: Tom Tykwer wollte mit der Serie immer die Brücke vom Berliner Club Berghain und seinen Techno-Erfahrungen im Berlin der Wendezeit zum Jahr 1929 schlagen. Das Moka Efti ist sozusagen die 1929-Version des Techno-Clubs Berghain. Es geht um die Allegorie des Tanzes auf dem Vulkan. Dieses Motiv steckt in der Serie essenziell drin - und genauso verhält es sich mit der Musik.

"Zu Asche, zu Staub": Die Fantasie einer Clubnummer von damals

teleschau: Welche Stile stecken im Hit "Zu Asche, zu Staub"?

Kamien: Wie hätte "Relax" von Frankie Goes to Hollywood 1929 geklungen - so lautete unser Briefing. Deshalb hat der Song auch dieses modale Intro, so wie ein Clubsong. "Zu Asche, zu Staub" ist praktisch unsere Fantasie, wie sich eine Clubnummer mit dem Wissen von heute damals angehört haben könnte. Natürlich ist das eine gedankliche Konstruktion. Ich höre da auch Chanson und Ennio Morricone heraus. Es brauchte allerdings auch einen Refrain, der dem Ganzen eine hymnische Größe verleiht.

teleschau: Woher kam der Text?

Kamien: Der Refrain sollte so etwas wie ein Leitsatz der Serie sein. Ich hatte die Idee mit den Worten "Zu Asche, zu Staub". Dazu kamen die Stimme und die Grandezza-Performance der Sängerin und Schauspielerin Severija Janušauskaitė, die ja auch eine wichtige Rolle in der Serie spielt. Und fertig war der Hit (lacht).

teleschau: Wer hat sich diesen wilden Rhythmus ausgedacht - und ist er authentisch?

Kamien: Nein, das würde ich nicht sagen. Wir haben den Rhythmus durch Ausprobieren, durch eine Jam-Session gefunden. Es war klar: Wir brauchen etwas, das pumpt. Etwas mit Schlagzeug-Besen, das aber auch etwas von einem Trip hat.

teleschau: Wie sehr bestimmt der Rhythmus der Musik die Serie als solche?

Weidemann: Sehr deutlich, finde ich. Tom Tykwer war zumindest in Deutschland ein absoluter Pionier dieses Ansatzes. "Lola rennt" von 1998 war der vielleicht erste deutsche Spielfilm, bei dem die Musik Bilder auch ein ganzes Stück weit definierte. International war zwei Jahre zuvor "Trainspotting" ein wichtiger Wegbereiter dieses Ansatzes.

Cabaret, Cross-Dressing und das Neu-Erfinden sexueller Identitäten

teleschau: War denn auch schon klar, dass es diese großartige Tanz-Performance im Moka Efti zum ersten Auftauchens des Liedes in der Serie geben würde?

Kamien: Ja, das stand schon alles im Drehbuch drin. Dass die Zuschauer im Publikum das Lied kennen, dass es eine ritualisierte Choreografie zwischen Band und Auditorium geben sollte. Die 80 Tänzer warteten sozusagen auf ihren Einsatz ...

teleschau: Mittlerweile scheint es so, als wären die Musik und das Lebensgefühl der 1920er-Jahre insgesamt ein heißer Trend. Sorgten die Serie und Ihre Musik für diesen Trend - oder haben Sie ihn nur entdeckt und aufgenommen?

Weidemann: Der Trend war schon vorher da, aber vielleicht ein bisschen kleiner. Schon vor "Babylon Berlin" gab es in vielen deutschen Großstädten eine Party-Szene, in der man zu Schellack-Platten tanzte. Ich selbst war lange vor "Babylon Berlin" auf Partys in Neukölln, wo ein paar hundert Leute regelmäßig in diesen Outfits und zu diesem Sound unterwegs waren. "Bohème Sauvage" heißt eine dieser Party-Reihen, die - soweit ich weiß - schon länger sehr erfolgreich ist. Da geht es auch um Cabaret, Cross-Dressing und das Neu-Erfinden sexueller Identitäten. Das Ganze ist definitiv größer als ein rein musikalischer Trend.

teleschau: Was fasziniert die Menschen heute an jener Zeit, in der "Babylon Berlin" spielt?

Kamien: Es gibt das berühmte Triptychon "Großstadt" von Otto Dix. Da sieht man in der Mitte eine wilde Party-Szene, aber auf den Seitenbildern links einen Kriegsversehrten und rechts eine Gruppe von Huren. Dix malte das Bild 1927 und 1928, es gilt als Schlüsselwerk der Zeit. Wir reden von einer Ära, in der die alte Welt zusammengebrochen war und etwas Neues entstand, von dem man noch nicht wusste, was es wird. Ich glaube, aus diesem Grund waren alle so nervös. Die Folge war jener Tanz auf dem Vulkan. Ich kann mir vorstellen, dass sich viele Menschen heute wieder so fühlen.