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Hölle auf Erden - Straflager wartet auf Kremlgegner Nawalny

Russlands Straflager gelten als Hölle auf Erden. Viele Prominente, darunter der Literaturnobelpreisträger Solschenizyn, schilderten die unmenschlichen Zustände dort. Nun soll auch Kremlgegner Nawalny in eine solche Haftanstalt. Was erwartet ihn?

Offiziere der Spezialpolizei OMON stehen an einer Straßensperre unweit einer Strafkolonie in der Region Karelien.
Offiziere der Spezialpolizei OMON stehen an einer Straßensperre unweit einer Strafkolonie in der Region Karelien.

Moskau (dpa) - Alexej Nawalny drohen nach dem Mordanschlag auf ihn mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok neue Gefahren im Straflager.

Mindestens zwei Jahre und sechs Monate soll der prominente Kritiker von Kremlchef Wladimir Putin in einer dieser gefürchteten Haftanstalten verbringen. Am Montag war zunächst unklar, wann er ins Straflager gebracht wird. Sie habe Angst um das Leben des 44-Jährigen, sagte die Menschenrechtlerin Olga Romanowa von der Gefangenen-Hilfsorganisation Russland hinter Gittern (Rus Sidjaschtschaja) nach dem Richterspruch. Russlands Straflager sind berüchtigt für rohe Gewalt, Folter - und auch Todesfälle.

Sogar Teile der russischen Staatsführung verglichen die «unmenschlichen» Zustände schon mit dem Gulag - den Straflagern zu Zeiten des Sowjetdiktators Josef Stalin (1879-1953). Viele Prominente haben von ihren Erfahrungen dort berichtet, der Putin-Gegner Michail Chodorkowski etwa, der viele Jahre in einer Strafkolonie zubrachte - und sich einsetzt für Nawalnys Freilassung. Er bezeichnete es als mutigen Schritt, dass der Oppositionelle trotz drohender Haft nach Russland zurückkehrte, nachdem er sich in Deutschland von dem Giftanschlag erholt hatte. Der frühere Oligarch, der sich einst mit Putin überwarf, meinte aber auch, dass auf Nawalny durch weitere Strafverfahren immer noch Haftjahre zukommen könnten.

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«Folter, Schläge und Todesfälle» gehörten zum Alltag in den Straflagern, berichtete die Aktionskünstlerin Nadeschda Tolokonnikowa von der Moskauer Punkband Pussy Riot. Sie wurde mit ihrer Bandkollegin Maria Aljochina 2012 zu zwei Jahren Straflager verurteilt, weil sie in einem Punkgebet in einer Kirche gegen Putin protestiert hatte. In ihrem Buch «Anleitung für eine Revolution» erzählte Tolokonnikowa nüchtern und in eindringlichen Bildern von der sklavenähnlichen Ausbeutung im Strafvollzug.

Nach Behördenangaben sitzen rund eine halbe Million Menschen in Russland in Haftanstalten. Nirgends sonst in Europa gibt es laut Gefangenen-Statistiken des Europarats, in dem Russland Mitglied ist, mehr Menschen hinter Gittern, wenn es um die Zahl der Inhaftierten je 100.000 Einwohner geht. Anklagen bedeuten im flächenmäßig größten Land der Erde fast immer auch ein Schuldspruch.

Auch politische Gefangene wie Nawalny kommen in diese Straflager - aus Sicht von Menschenrechtlern oftmals nicht wegen echter Verbrechen, sondern wegen ihrer regierungskritischen Haltung. Die Aktivistin Tolokonnikowa etwa erlebte im Lager «IK-14» in Mordwinien als Näherin von Polizeiuniformen Arbeitstage von 7.30 Uhr bis 0.30 Uhr - bei nur einem freien Tag im Monat. Systematischer Schlafmangel, schlechtes Essen, kalte und schmutzige Zellen sollen die Gefangenen möglichst rasch brechen, wie sie festhielt. Die Arbeitslöhne liegen nach offiziellen Angaben bei unter vier Euro pro Tag.

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«Hunderte HIV-Kranke arbeiteten 16 Stunden am Tag und richteten die Reste ihres Immunsystems damit zugrunde. Zum Sterben brachte man sie ins Lagerkrankenhaus - damit sie mit ihren Leichen nicht die Koloniestatistik verdarben», notierte Tolokonnikowa. Die Musikerinnen von Pussy Riot gründeten nach ihrer Entlassung Ende 2013 die Hilfsorganisation Zona Prawa (Zone des Rechts). Besonders setzt sich Tolokonnikowa, wie sie der Deutschen Presse-Agentur einmal sagte, für Frauen ein, die sich nach langer Misshandlung gegen häusliche Gewalt wehrten und ihre Männer töteten, um das eigene Leben zu retten.

Wie brutal es zugehen kann in den Straflagern, beschrieb schon früh der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn (1918-2008) in seinem Werk «Der Archipel Gulag». Aber auch 30 Jahre nach dem Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft hat sich nach Meinung von Menschenrechtlern nichts grundlegend geändert. Die Organisation Memorial sammelt Berichte von Augenzeugen. Überlebende erzählen auch in Dokumentationen oft unter Tränen von Willkür und drakonischen Strafen, von Vergewaltigungen, Hunger und Seuchen.

Die kremlkritische Zeitung «Nowaja Gaseta» berichtete mehrfach, dass Angehörige brutal misshandelter oder sogar getöteter Gefangener immer wieder flehend an Präsident Putin schrieben, er möge gegen «sadistische Knastaufseher» vorgehen. Doch Anwälte, Menschenrechtler, die Organisation Russland ohne Folter (Rossija bes Pytok) und Russland hinter Gittern beklagen, diese Beschwerden blieben meist folgenlos für die genannten Peiniger.

So oder so kommen auf den Putin-Gegner Nawalny harte Zeiten zu - er ist von seiner Frau Julia und den beiden Kindern auf Jahre getrennt. Das Strafvollzugsrecht erlaubt ihm in einem «Lager allgemeinen Regimes» etwa sechs kurze und vier längere Besuche pro Jahr. Doch wegen der Coronavirus-Pandemie gab es aus vielen Lagern zuletzt Berichte über Einschränkungen der Rechte.

Die Gefahr im Lager sei auch deshalb groß, weil dort wegen eines Systems korrupter und krimineller Geflechte und wegen fehlender Überwachung Verbrechen schwerer aufzuklären seien, meinen Experten. Die Menschenrechtlerin Romanowa sagte nach dem umstrittenen Urteil gegen Nawalny, dass er im Untersuchungsgefängnis immerhin noch unter starker Beobachtung von Personal und Videokameras stehe. Aber bei einer Überstellung ins Lager gebe es keine Sicherheit mehr für ihn.

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