Werbung

"Ich habe ganz massive Existenzangst": Das Phänomen "Erwerbsarmut"

Deutschland hat den größten Niedriglohnsektor Westeuropas. Während Aktienkurse und Unternehmensgewinne steigen, wächst die Erwerbsarmut seit Jahren.

Wie viel ist Arbeit in diesem Land noch wert? Melanie ist 40 Jahre alt, alleinerziehende Mutter einer 14-Jährigen und verdient für 40 Stunden Arbeit pro Woche rund 1.250 Euro Netto im Monat. Nach Abzug der Fixkosten verbleiben für beide 500 bis 520 Euro. "Dann frage ich mich: Gehe ich dafür echt arbeiten?", so die Verwaltungsfachangestellte. Sie tut es, wie vier Millionen weitere Beschäftigte in Deutschland, die von sogenannter "Erwerbsarmut" betroffen sind und trotz Beschäftigung unter der Armutsgrenze leben. Melanie spricht unumwunden von "Existenzangst". Die Solingerin hat für die ZDFinfo-Dokumentation "Arm trotz Arbeit - Überleben mit Niedriglohn" (Dienstag, 21. Januar, 20.15 Uhr) ihren Kontostand im Laufe des Monats offengelegt. Das Resultat dieses Kontostands ist: einkaufen beim Foodsharing, Sommerferien in Solingen und sechs Euro für die verbleibenden acht Tage. Was bleibt, ist Zynismus. Eine Stromrückzahlung über 350 Euro kommentiert sie augenzwinkernd mit: "Ich bin also vor dem Monatsende steinreich."

Während die Gewinne der Unternehmen von 1990 bis 2018 inflationsbereinigt um 78 Prozent wuchsen, stieg das durchschnittliche Brutto-Einkommen nur um 15 Prozent. Seit 2007 ist es im Niedriglohnsektor sogar gesunken. Doch was heißt das für die Betroffenen?

Die Straßenumfrage in der Doku ergibt ein klares Bild, wer Schuld tragen soll an diesen Gegebenheiten: die Regierung, die Unternehmen, Arbeitgeberverbände, oder ganz simpel "die Politik". Tatsächlich haben insbesondere zwei einschneidende politische Entscheidungen den Arbeitsmarkt verändert. Da wäre zum einen die "Agenda 2010", die der damalige Kanzler Gerhard Schröder 2003 ausrief, mit dem Ziel die Wirtschaft anzukurbeln und die Arbeitslosigkeit zu senken. Die Kosten dafür waren radikale Arbeitsmarktreformen und die Kürzung staatlicher Sozialleistungen. So verdoppelte sich die Zahl der Erwerbsarmen laut Eurostat im Zeitraum von 2004 bis 2014. Der zweite folgenschwere politische Einschnitt war laut dem Film von Anja Marx und Oliver Koytek die EU-Osterweiterung im Jahr 2004, in deren Zuge viele Billiglohnkräfte einwanderten. Diese Zuwanderung hat sich zusätzlich lohndämpfend ausgewirkt.

Allerdings, auch das macht der Film deutlich, sind es oft die Osteuropäer, die von Ausbeutung betroffen sind. Viele können kein Deutsch und wissen sich nicht gegen inakzeptable Arbeitsbedingungen zu wehren. "So lange sie sich an diesen Menschen bedienen können, ohne dass sie gezwungen werden, hier ordentlich zu bezahlen, so lange gibt es für das einzelne Unternehmen auch keinen Grund, diese Option nicht in Anspruch zu nehmen", äußert sich Sozialwissenschaftler Stefan Sell von der Uni Koblenz im Dokumentarfilm.

Die Beschäftigten müssen selbst aktiv werden

Alleine der Regierung sowie den Unternehmen den schwarzen Peter zuzuschieben, wäre jedoch zu kurzgegriffen. Professor Sell ergänzt die Liste um eine unpopuläre Wahrheit: "Die Arbeitnehmer sind auch nicht unschuldig an dieser Entwicklung." Passivität und Inaktivität der Beschäftigten würden die Situation begünstigen. Beispielsweise seien viel zu wenige von ihnen in Gewerkschaften organisiert, vor allem im Dienstleistungssektor. "Die Dienstleistungsbeschäftigten müssen sich kollektivieren."

Dass aktives Ankämpfen gegen untragbare Arbeitsbedingungen Früchte trägt, zeigt das Beispiel von Bernd und Claudia Wede, die als Callcenter Agents einen Betriebsrat gründeten und viele Punkte verbesserten. Bezahlt wird allerdings weiter Mindestlohn. "Für die Zukunft wünsche ich mir, mir mal mehr als das nackte Überleben gönnen zu können", so Claudia.

Auch das obligatorische Positiv-Beispiel darf in der Dokumentation nicht fehlen: Das Bau-Unternehmen "Hering" ist seit Gründung im Jahr 1892 im Familienbesitz und bezahlt mindestens Tarif. Es gibt eine ganze Reihe von attraktiven Benefits für Mitarbeiter: Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Ostergeld, kostenlose Sportangebote und bereits seit 1971 eine Gewinnbeteiligung. Die vorbildliche Unternehmenskultur wurde 2017 vom Bundesarbeitsministerium ausgezeichnet. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. So sei es laut Professor Sell die Aufgabe des Staates, mehr in den Arbeitsmarkt einzugreifen, und damit vergleichbare Unternehmensmodelle mit fairer Bezahlung zu fördern.