Halluzinationen, Krämpfe, Demenz - Mysteriöse Nervenkrankheit in Kanada: Arzt macht Schock-Fund im Blut seiner Patienten

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Scan eines menschlichen Gehirns (Symbolbild)Getty Images/Cultura RF/Andrew Brookes

In Kanada geht seit Jahren eine unbekannte Nervenkrankheit um, die bei jungen Menschen Halluzinationen und Demenz auslöst. Anwohner wittern Vertuschungen auf höchster Ebene. Jetzt macht ein Arzt eine beunruhigende Entdeckung - und die Fallzahlen steigen weiter.

Eine mysteriöse Nervenkrankheit in Kanada wirft Fragen auf. Laut Berichten der „New York Times“ leiden mittlerweile schon über 400 Menschen in New Brunswick an rätselhaften neurologischen Störungen : aus dem Nichts auftretender Gedächtnisschwund, Halluzinationen, Muskelkrämpfe, drastischer Gewichtsverlust, Lähmungen sowie Seh- und Sprechstörungen.

Der erste Fall trat 2013 auf – 48 weitere Patienten vermeldeten 2018 und 2019 ähnlich alarmierende Symptome. Dann stiegen die Fallzahlen weiter. Viele Betroffene sind jung und galten zuvor als völlig gesund. Auf einmal können sie keine Unterhaltungen mehr führen und laufen gegen Türen. Neurologen spekulieren seit Jahren über mögliche Umweltfaktoren. Angehörige der Opfer werfen den Behörden Vertuschung vor.

90 Prozent der Patienten mit extrem hohen Pestizidwerten

Die „New York Times“ zitiert den Neurologen Alier Marrero, der die Gesamtzahl der Patienten inzwischen auf über 430 beziffert. 111 von ihnen sind unter 45 Jahre alt. 39 starben bereits. Der Mediziner bezeichnet die Provinz New Brunswick als weltweiten Hotspot für Demenz im jüngeren Lebensalter. Nun zeigen Marreros neue Laboranalysen: 90 Prozent seiner Patienten hatten teils extrem hohe Pestizidwerte im Blut.

Anfangs tippten Wissenschaftler noch auf die Hirnerkrankung Creutzfeldt-Jakob – doch alle Testresultate waren negativ. Verzweifelt warteten Patienten auf den Untersuchungsbericht der Behörden. Der lautete schließlich 2022: Es gibt gar keine mysteriöse Nervenkrankheit. Auf einmal war von „alternativen Diagnosen“ die Rede. Die Symptome könnten auf frühere Gehirnerschütterungen hindeuten, hieß es, vielleicht auch auf Schizophrenie, Alzheimer, Krebs oder Parkinson. Zudem versicherten die Behörden: Umwelteinflüsse seien auszuschließen.

Behörden haben Untersuchungen eingestellt

Zu Beginn ihrer Untersuchungen trafen Regierungsvertreter monatelang mit unabhängigen Experten zusammen. Unter anderem kam auch der Verdacht auf das Nervengift BMAA auf, das in Schalentieren wie Hummern auftreten kann. Hummerfang und Tourismus sind die Hauptgewerbe der malerischen Provinz am Atlantik.

Kurz nach der Verdachtsäußerung wurden die Treffen überraschend auf Eis gelegt. Die Regierung distanzierte sich von Marrero, der Teil des Untersuchungsgremiums war. Statt von einer definitiven Nervenerkrankung war nur noch von einer „möglichen Krankheit“ die Rede – und schließlich von gar keiner mehr. Die Untersuchungen wurden eingestellt. Das Misstrauen und die Wut in der Bevölkerung wuchsen – zumal herauskam, dass die Behörden bereits genehmigte Bundesgelder für weitere Ermittlungen ablehnten. Vorwürfe über Vertuschungen wurden lauter.

„Wir fordern neue Untersuchungen, einschließlich Umweltfaktoren“, empörte sich Stacie Quigley Cormier nach der Berichtveröffentlichung im Sender CTV. Ihre Tochter Gabrielle zählte als 20-Jährige zu den jüngsten Patienten. Seit 2019 sitzt die frühere Studentin und begeisterte Eiskunstläuferin im Rollstuhl. Gesprächen kann sie nicht mehr folgen. Unter anderem wollte man Gabrielle Schizophrenie diagnostizieren.

Neue Erkrankungen häufen sich zu bestimmten Jahreszeiten

Doch ihr Arzt Marrero gab nicht auf. Wie er der „New York Times“ verriet, ließ er seine Patienten in einem Labor in der Nachbarprovinz Quebec auf verschiedene Pestizide hin testen – darunter auch Glyphosat. Das Unkrautvernichtungsmittel wird in New Brunswicks Forstwirtschaft verwendet. Denn dem Neurologen war aufgefallen: Neue Erkrankungen häuften sich im Spätsommer und Frühherbst – genau dann, wenn das Mittel besonders stark zum Einsatz kommt.

Die Laboranalysen zeigten: Von 100 Patienten hatten 90 erhöhte Glyphosatwerte im Blut – in einem Fall sogar 15.000 mal mehr als die kleinste messbare Konzentration. Der Wirkstoff ist umstritten – wurde 2023 aber auch auf EU-Ebene für zehn weitere Jahre genehmigt. Studien zufolge kann Glyphosat die Blut-Gehirn-Schranken durchdringen und neurologische Entzündungen hervorrufen, die Alzheimer auslösen können.

„Ich sage nicht, dass das hier der Fall ist“, so Marrero in der „New York Times“. „Aber es zeigt mir, dass etwas in der Umwelt nicht stimmt. Niemand, der hier involviert ist, kann so tun, als wisse er das nicht.“

„Weiß nicht einmal, was ich tun könnte, um meine Familie zu beschützen“

Viele Kanadier stimmen ihm zu und fordern nun neue Untersuchungen – einschließlich Umweltfaktoren. So auch die kanadische Grünen-Abgeordnete Megan Mitton. „Ich kenne persönlich Menschen in meiner Gemeinde, die betroffen sind“, sagte sie dem Sender CTV. „Ich denke an meine Kinder und weiß nicht einmal, was ich tun könnte, um meine Familie zu beschützen. Genau das macht vielen in New Brunswick so Angst, dass wir keine Informationen haben, wie wir uns schützen können.“

Auf Presseanfragen erklärte das Gesundheitsamt: Marrero habe ihnen 2024 noch keine neuen Fälle gemeldet. Weiter hieß es in einem Statement: „Bislang haben wir keine ähnlichen Benachrichtigungen von anderen Ärzten erhalten. Wir würden solche Berichte von jedem Mediziner gerne überprüfen.“