Handy-Verbot - „Vergesse ich nie“: Bei gewagter Schüler-Reise macht Lehrer erstaunliche Erfahrung
Die exzessive Handynutzung seiner Schüler brachte ihn zur Verzweiflung – dann machte Olaf Keil, Lehrer an der Ernst-Barlach-Gemeinschaftsschule aus Wedel, einen Vorschlag: eine Woche Schüler-Reise ohne Handy. Die Begeisterung blieb aus – zunächst…
FOCUS online: An der Gemeinschaftsschule, an der Sie unterrichten, gab es zu Beginn des Jahres eine besondere Reise. Sie sind mit 14- und 15-jährigen Schülern unter dem Motto „Digital Detox“ in die Berge gefahren. Wie kam es dazu?
Olaf Keil: Ich bin seit über 30 Jahren im Geschäft. Es ist schon gravierend, wie sich das Freizeitverhalten der Jugendlichen durch die Handys und die exzessive Nutzung der sozialen Medien verändert hat.
Was genau hat sich verändert?
Keil: Ich bin unter anderem Sportlehrer. Hier ist mir eine extreme Sport- und Bewegungsunlust der Schüler aufgefallen. Mindestens vier oder fünf nehmen pro Sport-Stunde gar nicht erst teil, jedes Mal. Und von den anderen sind einige nicht viel mehr als nur körperlich anwesend. Die Schminke könnte verschmieren, die Haare könnten auseinanderfallen… Das hört man als Begründung, wenn ein Teil wieder mal nur rumsteht.
Exzessive Handy-Nutzung der Schüler: „Die Folgen sind fatal“
Ein Teil der Mädchen?
Keil: Bei den Jungs ist es genauso. Man will sich nicht anstrengen, man will nicht schwitzen, nicht an seine Grenzen gehen. Das sind alles Dinge, die vielen völlig fremd sind - eben, weil sie die meiste Zeit digital unterwegs sind. Die sinkenden Mitgliederzahlen in den Sportvereinen bestätigen das. Die Folgen sind fatal. Nicht nur, dass es heute eher die Ausnahme als die Regel ist, dass Jugendliche so etwas wie die Rolle vorwärts können…
Sondern?
Keil: Da kommt ganz viel abhanden, was in Sportvereinen über das Sportliche hinaus vermittelt wird. Der respektvolle Umgang miteinander, dass man sich an die Regeln hält, dass man lernt, mit Misserfolgen umzugehen. Wer sportlich weniger begabt ist, hat vielleicht woanders Stärken. Aber das kann man nur herausfinden, wenn man aktiv ist, wenn man sich ausprobiert.
Zum Beispiel bei einer handyfreien Klassenfahrt. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Keil: Da muss ich etwas ausholen. Im April 2022 war ich mit einem Freund, der beim NDR arbeitet, zum Skifahren in Obertauern. An einem Nachmittag saßen wir mit dem Tourismuschef des Ortes bei einem Bierchen und kamen auf die Freizeitgestaltung von Schülern zu sprechen. Der Tourismuschef meinte, dass auch in Österreich immer weniger Schüler Sport treiben würden. So entstand die Idee für ein Projekt, von dem wir alle profitieren würden: Mein Freund, der Redakteur, der über die Reise berichten könnte. Der Tourismusverband, der uns sponsern würde und im Gegenzug in die Öffentlichkeit käme. Und die Kinder, die eine tolle Reise zu einem für die Familien erschwinglichen Preis bekämen.
Schüler über handyfreie Reise: „Schaffe das nicht ohne mein Handy“
Mit dieser Idee sind Sie also an die Schule zurückgekehrt?
Keil: Ja, aber als ich den Schülern davon erzählte, hatte kaum einer Lust auf so eine Reise.
Keine Lust, wirklich?
Keil: Eigentlich war es eher Unsicherheit. Schließlich geht es darum, die eigene Komfortzone zu verlassen.
Mehrbettzimmer mit Stockbetten, einfaches Essen… Meinen Sie das?
Keil: Nein, ich meine das Verlassen der gewohnten heimischen Strukturen. Dabei spielt die Handynutzung eine wesentliche Rolle. Viele der Jugendlichen sind in der Social-Media-Welt zu Hause. Selbst die Spielkonsole ist da inzwischen weit abgehängt. Ein Schüler stand weinend vor mir und meinte: „Eigentlich würde ich schon gerne mit, aber ich glaube, ich schaffe das nicht. Ohne mein Handy.“
Was macht so etwas mit Ihnen?
Keil: Mir geht es richtig schlecht, wenn ich so etwas höre. Wie gesagt: Ich höre das seit einigen Jahren immer öfter. Wenn ich die Schüler nach den Ferien frage, was sie so gemacht haben, zeigt sich ein erschütterndes Bild. „Ich war drinnen“ - das ist der Klassiker. Wenn ich dann noch mal nachhake, hört man vereinzelt noch Sätze wie: „Ich war schon auch mal draußen“. Damit ist gemeint, man war „abhängen“, mit Freunden. Am Handy.
Wie ist es schließlich gelungen, die Schüler von der Klassenfahrt zu überzeugen?
Keil: Es war schwierig, Videos und Fotos von früheren Klassenreisen hatten nicht die gewünschte Wirkung. Die Kehrtwende kam, als drei Vertreter des Tourismusverbandes zu uns an die Schule kamen und ihre Region vorstellten. Alle drei waren super sympathisch, aber das allein reichte nicht. Wir hatten Glück: Als wir die Webseite der Region Obertauern öffneten und uns die Webcams ansahen, war alles strahlend weiß, die Sonne schien. Das hätte auch anders laufen können. So aber war das Interesse der Schüler geweckt.
Erschütternd: Manche Schüler verbringen 20 Stunden am Handy
Von da an war klar, die Reise würde stattfinden?
Keil: Ja, von diesem Zeitpunkt an konnten wir in die inhaltliche Vorbereitung gehen. Unter anderem ging es darum, die tatsächlichen Handynutzungszeiten zu ermitteln.
Eine Studie hatte Anfang des Jahres ergeben, dass Jugendliche in der genannten Altersgruppe täglich 5 bis 7 Stunden mit dem Smartphone verbringen.
Keil: Genau, das war unser nächster Schritt. Wir haben die Nutzungszeiten abgefragt.
Mit anonymen Fragebögen?
Keil: Nein, im Gespräch. Die Idee war ja, dass wir das Thema genauer beobachten und uns als Gruppe damit auseinandersetzen, also brauchten wir an der Stelle Transparenz.
Was haben die Jugendlichen berichtet?
Keil: Um es vorneweg zu sagen: Die Ergebnisse der Studie, die Sie gerade erwähnt haben, sind noch relativ harmlos. Drei Viertel der Schüler gaben an, zwischen 7 und 8 Stunden täglich am Handy zu sein. Am Wochenende waren es dann sogar teilweise bis zu 20 Stunden.
Moment mal. Da bleiben ja nur 4 Stunden fürs Schlafen übrig?
Keil: Ja, bei zwei Schülern war das tatsächlich so. Nur eine Schülerin fiel aus dem Raster der exzessiven Nutzung heraus. Sie gab an, ihr Mobiltelefon nur etwa 2 Stunden pro Tag zu nutzen. Alle anderen bewegten sich auf dem genannten Niveau. Die Vorstellung, handyfrei unterwegs zu sein, hat die Jugendlichen ziemlich unter Stress gesetzt. Der weinende Schüler, - der am Ende übrigens nicht mitkonnte, weil er sich beide Arme gebrochen hatte – ist dabei sicher ein Extrembeispiel. Aber eine gewisse Skepsis, wie man das schaffen sollte, ohne Handy, blieb bei allen. Bis zum Schluss.
Kein Kontaktverbot zu Familien - 1 Stunde Handyzeit
Und dann wurden die Handys abgegeben und es ging los?
Keil: Auf der Hinfahrt hatten die Schüler ihre Mobiltelefone noch - und da wurde die Notwendigkeit des Projekts noch einmal sehr deutlich, denn während der 13-stündigen Fahrt wurde eigentlich nichts anderes gemacht als auf den Geräten herumgedrückt. Vor Ort gab es dann eine klare Regel: abends, zwischen 21 und 22 Uhr, werden die Mobiltelefone ausgegeben. Eine Stunde lang sollten die Jugendlichen ihre Eltern anrufen und die verbleibende Zeit zum gewohnten Surfen in der digitalen Welt nutzen können. So ein Handy ist ja nicht nur schlecht, das möchte ich an der Stelle einmal ganz klar sagen. Ich hätte zum Beispiel ein Kontaktverbot zu den Familien nicht gut gefunden. Das wäre aus meiner Sicht nicht nur übergriffig gewesen, sondern auch nicht zeitgemäß.
Weil es am Ende nicht darum geht, ein Leben ganz ohne Handy zu trainieren, sondern um ein vernünftiges Maß?
Keil: Genau. Ein Opfer, das die Jugendlichen im Rahmen des Projekts bringen mussten, war zum Beispiel der Verzicht auf Fotos. Schöne Urlaubsfotos sind, wie wohl jeder bestätigen wird, etwas Wertvolles. Wir haben das letztendlich so gelöst, dass wir Lehrer den Schülern versprochen haben, ganz viele Bilder zu machen. Diese wurden nach der Reise in eine Cloud gestellt, auf die alle Zugriff hatten.
Wie haben Sie die Schüler während der Woche in den Bergen erlebt?
Keil: Jeweils bis 16 oder 17 Uhr waren wir im Skigebiet unterwegs – die Befürchtung einiger Schüler im Vorfeld, sich in der „programmfreien“ Zeit zu langweilen, war bis dahin also schon mal unbegründet.
“Wie wir zusammen an der großen Tafel gesessen haben, das vergesse ich nie!"
Und danach?
Keil: Für die Abende gab es jeweils ein tolles Programm. Bowling, Nachtwanderung, Fackelwanderung, so etwas. An einem Abend haben wir in zwei Gruppen mit einem Koch in dessen Lokal Kaiserschmarrn gemacht. Wie wird da zusammen an der großen Tafel gesessen haben, das vergesse ich nie!
Was war so besonders?
Keil: Die Jugendlichen haben sich miteinander unterhalten. Wie zivilisierte Menschen - ich muss das einfach so sagen, denn eine solche Atmosphäre kenne ich mit den Schülern so sonst nicht.
Wie lief das mit der Handynutzung?
Keil: Punkt 21 Uhr kamen die Schüler, um ihre Geräte abzuholen – wie die Geier. Aber nach einer Stunde wurden die Handys von selbst zurückgebracht. Nicht einmal hat jemand versucht, sein Gerät einzubehalten oder auch nur, Zeit zu schinden.
Wie kam das „Digital Detox“-Projekt bei den Jugendlichen selbst an?
Keil: Sie waren begeistert. Am ersten Abend gab es vielleicht hier oder da noch Entzugserscheinungen, aber dann haben sie auf mehrfaches Nachfragen gesagt, dass sie ihr Handy kaum vermissen würden. 'Erzählt bitte nichts, von dem ihr glaubt, dass wir es hören wollen', sagten wir. Das bringt uns nicht weiter.
Schüler profitieren von „Wagnis“
Wie entwickelte sich die Handynutzung nach der Reise?
Keil: Die Rückfahrt war schon mal interessant. Da wurden die Handys deutlich weniger genutzt als auf der Hinfahrt. Allerdings muss man sagen, dass die Jugendlichen auch ziemlich müde waren... Bemerkenswert fand ich, als drei Wochen nach der Fahrt ein Journalist in die Schule kam und von den Schülern wissen wollte, ob sie so etwas noch einmal machen würden. Die Arme gingen hier ohne Ausnahme nach oben. Einige Schüler waren dann sogar bereit, länger auf ihre Handys zu verzichten.
Wie lange?
Keil: Einer schlug zwei Monate vor. Dazu gingen einhellig die Arme hoch. Alle, wirklich, alle sagten, sie wären dabei – zu den bekannten Konditionen.
Was mag diesen Wandel bewirkt haben?
Keil: Entscheidend war wohl die Erfahrung, keine Angst haben zu müssen, die heimische Burg zu verlassen. Die Schüler haben mitgenommen, dass sie von diesem „Wagnis“ profitiert haben.
Beobachten Sie seit der Reise eine Veränderung im Handynutzungsverhalten im schulischen Alltag?
Keil: Wie an den meisten Schulen gibt es auch bei uns ein Handyverbot – das heißt, die Handys bleiben während der Zeit des Unterrichts in den Taschen. Für die Zeit danach kann ich natürlich nicht so viel sagen, außer, dass ich von drei der insgesamt 14 Schüler, die teilgenommen haben, die Rückmeldung habe, dass sie die Nutzung deutlich reduziert haben.
Das ist nicht wirklich viel.
Keil: Ich denke, wenn das Thema ins Bewusstsein gerückt ist, ist das schon mal gut. Wer weiß, vielleicht erinnert sich der eine oder andere ja eines Tages daran, wie der Verzicht sich angefüllt hat - und greift dann auf die Erfahrung zurück? Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass die Erfahrungen der Reise an der Schule sehr positiv kommuniziert werden. Nächstes Jahr werden wir das Projekt zum zweiten Mal durchführen. Im Gegensatz zum letzten Mal ist die Nachfrage diesmal sehr groß. So groß, dass leider bei weitem nicht alle Schüler, die wollen, mitfahren können.