„Hartes Vorgehen notwendig“ - Ungarn und Niederlande wollen aus EU-Asylregeln raus - ihnen fehlt Dänen-Option
Erst die Niederlande, jetzt auch Ungarn: Gleich zwei Länder wollen den EU-Asylregeln den Rücken kehren. Aber ist es so einfach, der Vereinbarung abzuschwören? Experten haben Bedenken - und erklären, was bei einem Ausstieg passieren würde.
Ungarn will aus den Asylregeln der Europäischen Union aussteigen. Das kündigte Europaminister Janos Boka vor kurzem an. „Gegen illegale Migration ist hartes Vorgehen notwendig“, schrieb er auf X.
Deswegen wolle Budapest einen Ausstieg aus diesen Regeln beantragen, falls eine Änderung der EU-Verträge dies zuließe. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Mitgliedstaat den EU-Asylregeln abschwören will.
Auch die Niederlande haben zuletzt bei der EU-Kommission den Ausstieg aus den EU-Asylregeln beantragt. Der Rechtspopulist Geert Wilders, der mit seiner radikal-rechten Partei für die Freiheit (PVV) erstmals in der Regierungskoalition sitzt, sprach von einem wichtigen Signal, „dass ein neuer Wind weht in den Niederlanden“.
Ungarn und Niederlande fehlt die Dänemark-Option
Dass die Niederlande und Ungarn Erfolg haben werden, ist unwahrscheinlich. Anders als Dänemark haben sich beide Länder nämlich kein sogenanntes „Opt-out im Bereich Asyl und Einwanderung vorbehalten“, erklärt der Jurist Andreas Zimmermann im Gespräch mit FOCUS online.
Er ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Europa- und Völkerrecht sowie Europäisches Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsvölkerrecht, an der Universität Potsdam und Herausgeber eines Buches zur Genfer Flüchtlingskonvention.
Dänemark hatte sich, so erklärt es Zimmermann, „anlässlich des Abschlusses des Vertrags von Amsterdam“ eine solche Möglichkeit in einem gesonderten Protokoll gesichert. „Das heißt, Dänemark beteiligt sich in der Regel nicht an EU-Rechtsakten, die im Bereich Asyl und Einwanderung verabschiedet werden und ist dementsprechend auch nicht an diese gebunden.“
Weder die Niederlande noch Ungarn haben eine vergleichbare Sonderposition vereinbart. Um aus den EU-Asylregeln auszusteigen, „bedürfte es also zumindest einer gesonderten Vereinbarung aller Mitgliedstaaten, die unter Umständen auch noch von allen 27 nationalen Parlamenten ratifiziert werden müsste“, so Zimmermann.
Niederlande und Ungarn könnten auch Antrag nach AEUV meinen
Er gibt auch zu bedenken, dass die jeweiligen Regierungen möglicherweise nur einen Antrag nach Artikel 78, Absatz 3 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) im Sinn haben. Darin heißt es:
„(3) Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen. Er beschließt nach Anhörung des Europäischen Parlaments.“
Wichtig ist, dass für solche etwaigen „Maßnahmen“ ein Beschluss des Rats der EU nötig wäre und es sich um ein vorläufiges, also nur vorübergehendes Vorgehen handeln würde.
Grundsätzlich äußert Zimmermann Bedenken an einem Ausstieg aus den EU-Asylregeln, wie ihn Ungarn und die Niederlande offenbar anvisieren. Er bezweifelt, dass das „ohne Vertragsergänzung überhaupt nach EU-Recht rechtlich zulässig ist“.
Was würde passieren, wenn beide Länder aussteigen?
Klar ist, dass ein solches Szenario andere EU-Mitgliedstaaten vor große Herausforderungen stellen würde.
Laut dem Juristen wären Ungarn und die Niederlande nach einem Ausstieg aus den EU-Asylregeln nicht mehr an die sogenannte „Rücknahmeverpflichtung“ aus der Dublin-III-Verordnung und die kürzlich verabschiedeten Rechtsakte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gebunden.
Die Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass - wie im Fall des Solingen-Attentäters - grundsätzlich derjenige EU-Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylersuchens zuständig ist, über den die betroffene Person in die EU eingereist ist.
„Das heißt, die Niederlande und Ungarn sind aktuell etwa gegenüber Deutschland verpflichtet, Asylsuchende zurückzunehmen, wenn sie über eines der beiden Länder in die EU eingereist sind“, sagt Zimmermann.
Eine Ausnahme läge vor, wenn ein anderer EU-Staat den Betroffenen bereits ein Visum ausgestellt hätte. Dann wäre dieser Staat für die Rücknahme und Prüfung des Asylgesuchs verantwortlich.
„Sie könnten Asylsuchende einfach nach Deutschland zurückweisen“
Wären die Niederlande und Ungarn nicht mehr an das Sekundärrecht der EU im Bereich Einwanderung und Asyl gebunden, „bestünde unter anderem diese Rücknahmeverpflichtung auch nicht mehr“, sagt der Jurist.
„Außerdem könnten beispielsweise die Niederlande Personen, die versuchen, aus Deutschland einzureisen, um dort einen Asylantrag zu stellen, in die Bundesrepublik zurückweisen und müssten sich nicht darauf beschränken, solche Personen in den nach der Dublin-Verordnung zuständigen EU-Mitgliedstaat zurückzubringen.“
Auch Winfried Kluth, Professor am Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universtität Halle-Wittenberg, zeigt im Gespräch mit FOCUS online auf, was ein Ausstieg Ungarns und der Niederlande aus den EU-Asylregeln bedeuten würde.
Ein solcher Schritt würde nicht nur das GEAS schwächen, sondern auch die Lage an den Grenzen ändern, sagt er. „Hinsichtlich der beschlossenen Reform wäre das ein Rückschlag, weil damit auch der beschlossene neue Soldiaritätsmechanismus geschwächt würde.“
Ungarn hielt sich bisher schon nicht an die Regeln
Kluth betont allerdings auch, dass sich Ungarn im Gegensatz zu den Niederlanden auch bisher „nicht an die Regeln gehalten hat“. Ungarns rechtspopulistische Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban betreibt seit Jahren eine Politik gegen Migranten und liegt deswegen mit der EU-Kommission im Dauerstreit.
Aktuell weigert sich Budapest zum Beispiel, ein vom Europäischen Gerichtshof wegen seiner restriktiven Asylpolitik verhängtes Zwangsgeld von 200 Millionen Euro zu bezahlen. Die EU-Kommission will das Geld deshalb von künftigen EU-Zahlungen an Ungarn abziehen.
Vor diesem Hintergrund könne man einen Ausstieg aus den Asylregeln als „eine Anpassung an die Realitäten sehen und als eine Verringerung von Konfliktfeldern“, meint Kluth.
„Dagegen spricht jedoch, dass damit in einem EU-Mitgliedstaat die Missachtung grundlegender asylrechtlicher Regeln hingenommen würde. Das gleiche gilt perspektivisch für die Niederlande, die sich aber bislang an die Regeln gehalten haben.“
EU-Asylregeln: Zwei Seiten einer Medaille
Letztlich hatte das europäische Asylrecht schon immer zwei Seiten: Abschottung nach außen und Gewährung von Rechten und Verfahren nach innen.
Darauf weist Maximilian Pichl, Rechts- und Politikwissenschaftler an der Hochschule RheinMain, im Gespräch mit FOCUS online hin. „Wir können aktuell beobachten, dass auch im Inneren versucht wird, bisherige Rechtsgarantien auszuhebeln“, sagt er.
„Ein weiteres wichtiges Element der EU-Asylpolitik – zumindest auf dem Papier – ist eigentlich die Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten.“ Diese würde durch nationale Alleingänge torpediert.
Die Plänen der Niederlande und Ungarns kommentiert er kühl: „Man kann beim Europarecht keine Rosinenpickerei betreiben und einerseits aus dem Asylsystem aussteigen, aber andererseits weiterhin am europäischen Binnenmarkt teilhaben wollen.“