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"Warum soll ich hassen, was ich nie gehasst habe": Jessy Wellmers Film über Ostdeutschland und Putin

In Güstrow sucht die ARD-Journalistin Jessy Wellmer das Gespräch mit ihren Eltern: Wie denken sie über Putin und seinen Angriff auf die Ukraine? (Bild: NDR / Jan Müller)
In Güstrow sucht die ARD-Journalistin Jessy Wellmer das Gespräch mit ihren Eltern: Wie denken sie über Putin und seinen Angriff auf die Ukraine? (Bild: NDR / Jan Müller)

Zu DDR-Zeiten war die Sowjetunion der beste Freund. Und auch heute fühlen sich viele Ostdeutsche mehr zu Russland als zur USA hingezogen. Wie denken die Menschen im Osten wirklich über den Angriff auf die Ukraine? Die ARD-Journalistin Jessy Wellmer recherchierte in ihrer eigenen Heimat.

"Wenn die USA sich nicht eingemischt hätte in der Ukraine, dann wäre es so weit gar nicht gekommen": Dieser Satz stand relativ am Anfang der Reportage "Die Story im Ersten: Russland, Putin und wir Ostdeutsche" am Montagabend. Er stammt von einer Frau, die die bekannte "Sportschau"-Moderatorin Jessy Wellmer Mitte September auf einer Demonstration in Dresden traf. So wie die namenlose Dame denken einige, aber bei Weitem nicht alle Ostdeutsche. Das wurde in dem 45-minütigen Film von Jessy Wellmer und Falko Korth deutlich.

Vier Wochen lang bereiste Wellmer, die 1979 in Güstrow, Mecklenburg geboren wurde ihre Heimat sowie andere ostdeutsche Städte, von Leipzig über Weimar bis nach Berlin. Sie wollte verstehen, "warum viele Menschen im Osten sich Russland offenbar noch immer so nah fühlen". Ihr eigentliche Intention betonte sie dabei immer wieder auf unterschiedliche Weise: "Ich möchte niemanden verurteilen! Ich werde Fragen stellen und zuhören." Dieser Ansatz ist der Journalistin, die die anderen Sichtweisen erklärt und einordnet, die aber auch ihre eigene Meinung äußert, gut gelungen.

Linken-Politiker Gregor Gysi hadert im Gespräch mit Jessy Wellmer mit dem positiven Russland-Bild, das er und seine Partei lange vertraten.  (Bild: NDR / Thomas Henkel)
Linken-Politiker Gregor Gysi hadert im Gespräch mit Jessy Wellmer mit dem positiven Russland-Bild, das er und seine Partei lange vertraten. (Bild: NDR / Thomas Henkel)

"Warum soll ich jetzt hassen, was ich nie gehasst habe?"

Die erste Etappe führte Wellmer zu ihren Eltern: Lydia und Eberhard Wellmer sind pensionierte Lehrer. Dem geplanten Projekt begegneten sie anfangs skeptisch, auch weil sie noch immer eine emotionale kulturelle Nähe zu Russland spüren: "Warum soll ich jetzt hassen, was ich nie gehasst habe?", fragte Eberhard Wellmer. Ihn wie auch seine Frau stört vor allem der mediale Umgang mit Russland seit dem Angriffskrieg: "Es geht nicht darum, diese Verbrechen zu rechtfertigen", sagte Eberhard Wellmer, "sondern es geht einfach darum, erstmal Meinungen einzusammeln." Mit anderen Worten ist es das Schwarz-Weiß-Denken, das sie am meisten stört.

Ein zwiespältiges Bild von Russland hatte auch Irene Odzuck, eine Freundin der Familie Wellmer. Als kleines Mädchen war sie 1945 vor der Roten Armee aus dem Sudetenland geflohen war. Im Film sprach sie vom guten Russen, der ihr Hirsebrei gab, und vom bösen Russen, den sie als Kind glücklicherweise nie kennenlernen musste. Auch Odzuck arbeitete in der DDR als Lehrerin. "Die Wende war für sie ein harter Schnitt", erklärte Wellmer: "Und doch hat sie die neuen Freiheiten schnell zu schätzen gelernt."

Odzuck verwies auf die andere Sozialisierung, die die älteren Generationen der Ostdeutschen erfuhren. Das Bild von der Sowjetunion als Freund sei nach der Wende nicht einfach verschwunden. Dennoch übte die über 80-Jährige auch Kritik: "Ich kann es manchmal nicht nachvollziehen, dass die russischen Frauen, die den Krieg miterlebt haben und wissen, was es bedeutet, Männer, Brüder und Söhne zu verlieren, dass die nicht auf die Straße gehen und schreien: 'Mit uns nicht!' Da hätte ich gedacht, da gibt es einen Aufstand der alten Frauen." Dass russischen Demonstrantinnen und Demonstranten hohe Geldstrafen oder gar Gefängnis drohen, wurde an dieser Stelle nicht erwähnt.

Gysi: "Sanktionen gegen die Führung ja, aber nicht gegen die Bevölkerung"

Vor der verallgemeinernden Verurteilung aller Russen warnte auch der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Linken, Gregor Gysi. Der Ausbruch des Ukraine-Kriegs war für ihn ein "richtiger Bruch" und ein "großer, großer Fehler von Putin und von der gesamten russischen Führung", wie er sagte. Doch man müsse zwischen Putin und der russischen Bevölkerung unterscheiden: "Deshalb sag ich: Sanktionen gegen die Führung ja, gegen die Oligarchen ja, aber nicht gegen die Bevölkerung, die den Krieg nicht beschlossen hat."

Gegen die verhängten Sanktionen sprach sich auch Frank Tornow, der SPD-Chef von Lubmin aus. Man müsse sich fragen, was die Sanktionen bislang gebracht hätten, sagte er mit Blick auf die steigenden Gaspreise: "Die ostdeutschen Bürger glauben manchmal nicht mehr an das, was so in den Medien gebracht wird." Der ehemalige NVA-Offizier Reinhard Bartz geht sogar noch weiter: "Das, was wir erleben, ist keine echte Demokratie mehr", sagte er unverblümt. Es war ein Satz, der Wellmer und viele Zuschauerinnen und Zuschauer zu Hause gleichermaßen erschreckte. Für Bartz ist Amerika "das Feindbild". Den Ukraine-Krieg bezeichnete er als "Stellvertreterkrieg für die USA", für den westliche Provokationen verantwortlich gewesen seien. Ähnlich sah es auch die eingangs zitierte Dresdner Demonstrantin, die Angst hat, Deutschland werde an die USA "verkauft" und Europa werde zum 51. Bundesstaat der USA.

"Ignoranz des Westens" als Problem

So seltsam diese Aussagen in vielen Ohren westdeutscher Menschen klingen mochten, so sehr kam man dennoch ins Grübeln, als Bartz den einseitigen Blick heutiger Dokumentationen auf die DDR kritisierte: "Wenn ich mir anhand dessen ein Bild von der DDR machen müsste, dann hätte ich in einem Horrorfilm gelebt." Sind die Gräben zwischen Ost- und Westdeutschland am Ende also vor allem das Ergebnis mangelnder oder fehlgeleiteter Kommunikation?

Die Journalistin Antonie Rietzschel würde diese Frage wohl zumindest in Teilen mit "Ja" beantworten. Die "Ignoranz des Westens gegenüber ostdeutschen Lebensläufen" kritisierte sie in der Reportage ebenso wie sie beklagte, dass sich viele Menschen hinter ihrer Ostidentität verschanzten und sich ein Teil der Mittelschicht zunehmend radikalisierte, anstatt dass die Menschen selbst anerkennen und schätzen, was sie in den 30 Jahren seit der Wiedervereinigung erreicht haben.

"Ich glaube, dass die Ostdeutschen genauso wie die Westdeutschen versuchen zu verstehen, was passiert", sagte die Historikerin Silke Satjukow. "In Krisenzeiten und in Kriegszeiten tendieren Menschen dazu, die Komplexität zu reduzieren." Sie griffen auf biografische Prägungen und Stereotypen zurück, zu denen eben auch die hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland nach der Wende und das Bild einer aggressiven NATO gehören.

"Ich habe gelernt, dass die Sicht auf das heutige Russland eng verknüpft ist mit der eigenen Geschichte und den eigenen Erfahrungen, vor und nach 1990", bilanzierte Jessy Wellmer nach 45 Minuten: "Es gibt nicht DIE Ostdeutschen. Genauso sind nicht alle Menschen hier sogenannte Russland-Versteher."