Was heißt hier mehrheitsfähig? - Über die Quotenhörigkeit des deutschen Fernsehens

Quote gut, alles gut? - Inzwischen wissen auch zahlenhörigste TV-Manager, dass die Rechnung wohl nicht ganz so simpel ist. Eine neue TV-Doku beleuchtet jetzt die komplexen Zusammenhänge zwischen Quote und Qualität.

Sie würden es vermutlich nicht zugeben, aber wenn Fernsehmacher über Einschaltquoten reden, weht meist ein Hauch von Melancholie durch die Debatte. Na klar: Früher war mehr Lametta ... respektive Quote. Bei 20 Millionen Zuschauern, so formulierte es "Mr. Hitparade" Dieter Thomas Heck einmal im Rückblick auf die großen Tage der deutschen TV-Unterhaltung, hätte man zu seiner Zeit eine Krisensitzung einberufen und sich gefragt, was man falsch macht. Seine Show hatte über Jahre hinweg um die 25 Millionen Zuschauer. Lang ist's her. Heute ist alles anders, auch in der Fernsehwelt, wo nur noch vereinzelte Sendungen mehr als zehn Millionen Zuschauer erreichen - der "Tatort" etwa und natürlich Live-Fußball. Was sich nicht geändert hat: Die Quote ist das Maß aller Dinge. Nur, wie sinnvoll ist die Zahlenhörigkeit in Zeiten von Streamingdiensten, Mediatheken und YouTube noch? Wie wird diese ominöse Quote überhaupt ermittelt? Und wie analysiert man Ergebnisse, wenn man weiß, dass Katzenvideos millionenfach geklickt und der Clip zu einem Liedchen namens "Despacito" 6,6 Milliarden-mal geguckt wurde? - Fragen und Zusammenhänge, die die Filmemacher Gregor Streiber und Frank Aischmann in ihrer tiefschürfenden Dokumentation "Die Wahrheit hinter der Quote" (Donnerstag, 5. März, 20.15 Uhr, 3sat) beleuchten.

Im Grunde geht es dabei ums Ganze: Quoa vadis, Deutsches Fernsehen? - Dokumentarfilmer Streiber sagt, er könne das natürlich auch nicht genau beantworten, aber seine ganz private Erfahrung dürfte vielen bekannt vorkommen: "Ich bin Mitte 40 - und in meinem Umfeld gibt es immer mehr Leute, die sagen: 'Ich brauch keinen Fernseher mehr."

Bereits 2014 fuhr das Duo von der "werwiewas medienproduktion" mit der ähnlich angesetzten TV-Doku "Die Macht der Zuschauer" kurioserweise eine der stärksten 3sat-Quoten aller Zeiten ein: 1,48 Millionen Zuschauer waren dabei, bei einem Marktanteil von 4,5 Prozent. Nachdem er sich nun noch tiefer durch die zahlen- und techniklastige Materie gegraben hat, ist Streiber überzeugt: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen werde sich in den nächsten 20 Jahren kaum Sorgen um den Fortbestand machen müssen. Was sich ändern dürfte, sind die inhaltlichen Gewichtungen.

"Im Bereich der Information, bei Nachrichten, Dokumentationen, auch bei großen Live-Shows und im Sport haben die Sender ein Monopol, und das werden sie noch lange verteidigen", meint der TV-Journalist. Die Frage ist, wie es mit der TV-Fiction angesichts der immer mächtiger auftretenden Streamingdienste weitergeht. Jedoch sollte man, betont Streiber, die Relationen im Blick haben: Von Zuschauerzahlen von vier bis acht Millionen, wie sie bei ARD- oder ZDF-Produktionen gängig sind, könnten andere nur träumen. "Es gibt wohl keine Netflixserie, die in Deutschland fünf Millionen Zuschauer hat."

Ernüchternder Blick auf die Realität

Dennoch ist das Thema Quote senderintern omnipräsent. "Die schauen sehr genau hin", weiß Streiber. Was auch mit der zunehmend harscher werdenden Kritik am beitragsfinanzierten Fernsehen zu tun habe: Beeindruckende Zahlen sind immer noch die beste Antwort auf die Anti-GEZ-Bewegung.

Warum die Quoten im öffentlich-rechtlichen TV alles andere als nebensächlich sind, erläutert im Beitrag Martin Berthoud. Er verantwortet seit 20 Jahren die Programmplanung im ZDF und sagt es nüchtern: "Die Quoten sind sehr wichtig fürs öffentlich-Rechtliche, denn die Programme werden von allen Beitragszahlern gezahlt." Also gehöre es "zur Qualität unseres Angebots, dass es tatsächlich auch die Beitragszahler in großer Zahl erreicht". Dabei leiste die Quotenmessung gute Dienste, so Berthoud.

Also Quote gut, alles gut? - Inzwischen wissen wohl auch die größten Zahlenfetischisten unter den TV-Managern, dass die Rechnung nicht ganz so simpel ist. Natürlich ist die seit 1985 von der GfK erfasste Einschaltquote nach wie vor die ultimative Währung des Erfolgs der Fernsehleute, aber zugleich ist sie vielleicht auch ihr größtes Problem. Denn die Frage ist: Wie mutig, wie innovativ kann ein Programm sein, das sich allein am Zuspruch orientiert? Der 45-minütige Beitrag beschäftigt sich ausgiebig mit solchen Gedanken. Und auch damit, wie vertrauenswürdig die repräsentativen Erhebungen sind, die sich die Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) 35 Millionen Euro pro Jahr kosten lässt. Immerhin sind die Daten der Panel-Teilnehmer ein streng gehütetes Geheimnis.

Die erfolgreichste deutsche TV-Sendung aller Zeiten

Was man hier noch erfährt, könnte bei Jauch oder Pilawa dann schon im gehobenen Preisgeldsegment weiterhelfen: Die erfolgreichste deutsche Fernsehsendung aller Zeiten, abgesehen von Sportübertragungen, ist ... - weder eine alte "Wetten, dass ..?"-Ausgabe noch ein "Tatort", sondern eine im November 1985 ausgestrahlte Folge der "Schwarzwaldklinik". 28 Millionen Zuschauer wurden bei der mit Blick auf die Resonanz geschichtsträchtigen Episode "Die Schuldfrage" registriert. Wobei der Quizshowmaster schon präzise formulieren müsste, schließlich kann man über die Definition des Erfolgs im Zusammenhang mit Einschaltquoten streiten: War nicht eigentlich eine deutlich ältere Ausstrahlung der größte Straßenfeger der deutschen Fernsehgeschichte? - "Das Halstuch", eine Folge des WDR-Sechsteilers "Tim Frazer" nach Francis Durbridge, wurde 1962 zwar "nur" von rund sieben Millionen Menschen gesehen, doch der prozentuale Zuspruch ist legendär: Die Fabelquote von 93 Prozent Marktanteil erklärt sich natürlich nur zum Teil aus der famosen Produktion des Thrillers mit Heinz Drache als Kriminalinspektor Yates. Sie hat vielmehr mit der Tatsache zu tun, dass es damals in der BRD einfach viel weniger Fernsehgeräte und -sender gab.

So launig solche nostalgischen Ausflüge in die Historie sind, so ernüchternd fällt der Blick auf die Aktualität aus. Wenn man heute im öffentlich-rechtlichen Fernsehen über Erfolge spricht, dann meint man zum Beispiel eine langlebige Krimi-Reihe wie "SOKO Leipzig" im ZDF. Mit regelmäßig knapp fünf Millionen Zuschauern gehört das Primetimeformat zu den Hits im Zweiten. Doch was heißt das? - Am "SOKO"-Set spricht Regisseur Patrick Winczewski in der Doku offen über die "eigenwillige Lesart" der Quoten seitens vieler Verantwortlicher und über die "eigenwillige Selbstberuhigung", die sich daraus ergäbe. "Die Quote", kritisiert er, "hindert mitunter eigentlich eine Qualitätsanalyse". Manche Filme und Formate, bei denen die Quoten stabil sein mögen, seien "eigentlich schon kurz vorm Sterben", sagt Winczewski. "Nur die Macher selber haben das noch nicht mitbekommen, weil sie diese ständige Fixierung auf die Quote haben."

Zombie-Formate, die Neuem im Wege stehen? - Es sind komplizierte Zeiten für ARD und ZDF; auch, weil der Spagat, den die Sender aufgrund ihres Programmauftrags vollziehen müssen, immer unmöglicher erscheint: Das Angebot soll Information, Bildung und Unterhaltung abdecken und gleichzeitig möglichst viele Zuschauer erreichen - in einer Gesellschaft, die Individualität und Diversifikation in vollen Zügen und auf allen Kanälen auslebt. Aber es hilft nichts: "Für den öffentlich-rechtlichen Sender an sich geht es um die Legitimität", heißt es im Beitrag: Die Programme müssten "gesellschaftlich relevant, tief und hintergründig sein, aber auch erfolgreich am Markt". Doch was ist wirklich mehrheitsfähig? - Eine Frage, so alt wie das Fernsehen selbst.

Altersstruktur bleibt ein Thema

"Die Schwarzwaldklinik" und die "Hitparade" sind es nicht mehr. Doch beim ZDF, mit aktuell an die 13 Prozent der Marktführer, scheint man noch ein gutes Gespür zu haben. Die Mainzer decken mit ihren Sendern und Beteiligungen 20 Prozent des Fernsehmarktes ab.

Ein zentrales Thema bleibt die Altersstruktur - beim ZDF ist der Zuschauer im Schnitt 62 Jahre alt, bei der ARD 60. Trotz aller Anstrengungen wendet sich die Jugend ab von der linearen Ausstrahlung. Reagiert wird mit dem Ausbau von Mediatheken und Apps, mit einem jungen Digitalangebot ("funk"), mit immer neuen, oft aufwendigen fiktionalen Produktionen. Wer weiß schon, ob das die richtige Strategie ist, um sich neben Netflix (aktuell bei rund 170 Millionen Abonnenten weltweit) und Co. zu behaupten? "Wenn ich die Quote planen könnte, wäre ich ein TV-Guru", sagt ZDFneo-Chefin Nadine Bilke im Film und verrät: "Die Frage, wie und wo erreiche ich mich mein Publikum, beschäftigt die Fernsehmacher mehr als noch vor 15 Jahren."

Fakt ist: Immer mehr vor allem jüngere Zuschauer nutzen das Fernsehen mobil - über die Apps und Livestreams, die für die Sender auch deshalb interessant sind, weil sie eine zielgruppengenaue Ausspielung ermöglichen. Für die Quotenerfassung stellt das eine Herausforderung dar. Jedoch, relativiert Gregor Streiber, dürfe bei alldem nicht vergessen werden, dass auch die Bevölkerung im Schnitt älter wird. Ende des Jahres 2018 waren die Deutschen im Schnitt 44,4 Jahre alt.

RTL-Show: "Abwehrwaffe gegen die Streamingdienste dieser Welt"

Was also ist die richtige Dosis Quotenhörigkeit? Ausgerechnet RTL setzt nun ein spannendes Zeichen: Der Kölner Privatsender wird am 8. April, am Mittwoch vor Ostern, die Leidensgeschichte Christi als Live-Spektakel inszenieren. Unter dem Titel "Die Passion" sind in Essen neben Alexander Klaws als Jesus bunt gemixte Stars von Martin Semmelrogge bis Stefan Mross mit von der Partie, Thomas Gottschalk übernimmt die Rolle des Erzählers. Eine Quotenvorgabe gibt es laut RTL nicht.

RTL-Unterhaltungschef Kai Sturm sieht solche Events als "Abwehrwaffe gegen die Streamingdienste dieser Welt". - Gut möglich, dass sich in den öffentlich-rechtlichen Anstalten der ein oder andere fragt: "Warum machen wir das eigentlich nicht?"