Herbst der Entscheidungen? Wie die Ampel Tritt fassen will
Berlin (dpa) - Kanzler Olaf Scholz will nach dem SPD-Erfolg bei der Wahl in Brandenburg auch künftig «kämpfen» und «handeln». Finanzminister Christian Lindner hat nach dem wiederholten Misserfolg seiner FDP einen «Herbst der Entscheidungen» ausgerufen - an den anliegenden Themen wie Migration werde die Koalition gemessen. Was hat die Ampel konkret vor? Was kommt auf die Bürgerinnen und Bürger bis zur Weihnachtspause zu - vorausgesetzt, die geplanten Entscheidungen der Ampel fallen nicht vorerst wieder neuen Streitereien zum Opfer?
Scholz sieht die Regierung vor großen Aufgaben, wie er sagte. Dabei gehe es zum Beispiel um den Kampf um Industriearbeitsplätze. Lindner sagte: «Diese drei Fragen: Migration, wirtschaftlicher Erfolg dieses Landes und stabilitätsorientierte Haushaltspolitik mit mutiger Schwerpunktsetzung, das sind die Fragen, die in diesem Herbst geklärt werden müssen.» Wo wollen SPD, Grüne und FDP noch einmal konkret ansetzen - vor Wahlkampf und Bundestagswahl voraussichtlich nächstes Jahr?
Migration
In der Migrationspolitik hat sich die SPD mit ihrer Innenministerin Nancy Faeser unter dem Druck der Ereignisse und getrieben von der Opposition schon sehr weit bewegt. Sie hat Kontrollen an allen Landgrenzen angeordnet. Asylbewerber erhalten für einen längeren Zeitraum geringere Leistungen. Abschiebungen nach Afghanistan sind kein Tabu mehr.
Um zu zeigen, dass man am Ball bleibt, will die Ampel-Koalition die nationalen Gesetzesänderungen, die es für die Umsetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) braucht, schneller vorantreiben als notwendig und noch in diesem Jahr im Bundestag beraten.
Mit ihren Vorschlägen zum Asyl- und Aufenthaltsrecht ist die FDP allerdings deutlich näher bei der Union als bei ihren Koalitionspartnern, nicht nur inhaltlich, sondern auch im Ton. Ihr Generalsekretär, Bijan Djir-Sarai sagt: «Wir brauchen eine grundlegende Neuordnung der Migrationspolitik in Deutschland. Es darf keine Denkverbote geben.»
Haushalt
Die Beratungen über den Etat der Bundesregierung für 2025 könnten die Sollbruchstelle der Koalition sein. So jedenfalls wird hinter vorgehaltener Hand spekuliert. Der große Showdown im Haushaltsausschuss ist Mitte November mit der Bereinigungssitzung. Bis dahin müssen die Haushälter es schaffen, noch drei bis vier Milliarden Euro einzusparen, damit die Rechnung aufgeht. Oder die Ampel entscheidet sich doch, höhere Kredite aufzunehmen und die Schuldenbremse wegen des Ukraine-Kriegs auszusetzen.
Das ist für die FDP von Finanzminister Lindner allerdings eine absolute rote Linie. Mehrfach hat der Parteichef deutlich gemacht, dass die Einhaltung der Schuldenbremse und der Verzicht auf Steuererhöhungen für ihn Voraussetzungen für ein Mitregieren in der Ampel sind.
Rettung von Industriearbeitsplätzen
Hiobsbotschaften aus der Industrie haben zuletzt ein neues Thema in den Vordergrund gespült: Es drohen massiver Stellenabbau und große Job-Verlagerungen in Ausland - etwa bei Volkswagen, beim Zulieferer ZF Friedrichshafen oder dem Stahlgiganten ThyssenKrupp. Kanzler Scholz hat sich deshalb die Rettung von Industriearbeitsplätzen auf die Fahnen geschrieben. «Und wir werden uns kümmern», versprach er.
Ideen gibt es einige: Die SPD brachte eine neue «Abwrackprämie» beim Ersatz von Verbrennern durch E-Autos ins Spiel, genau wie einen vergünstigten Industriestrompreis, der beim letzten Anlauf aber unter anderem an Scholz scheiterte.
Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) dämpfte zuletzt die Erwartungen: Es solle keine Schnellschüsse und keine «Strohfeuermaßnahmen» geben. Außerdem kenne man die Situation des Bundeshaushalts - und der ist geprägt von Sparzwängen.
Wachstumspaket
Steuerliche Anreize für E-Autos als Dienstwagen sind Teil einer geplanten umfangreichen «Wachstumsinitiative», mit der die Bundesregierung die Konjunktur wieder ankurbeln will. Vorgesehen sind auch Verbesserungen bei steuerlichen Abschreibungen und eine Ausweitung der Forschungszulage. Außerdem möchte die Ampel Bürokratie abbauen. Arbeitnehmer sollen Anreize bekommen, mehr und länger zu arbeiten.
Doch es sind noch längst nicht alle Maßnahmen vom Kabinett auf den Weg gebracht, im Bundestag könnte es noch zu Änderungen kommen. Pläne zu steuerlichen Anreizen für Fachkräfte aus dem Ausland sind umstritten. Dazu könnte einiges im Bundesrat verhindert werden, weil es zu Steuermindereinnahmen auch für die Länder führt.
Wirtschaftsverbände halten die «Wachstumsinitiative» für unzureichend. Auch Lindner hat deutlich gemacht, dass er weitere Maßnahmen für notwendig hält, damit deutsche Unternehmen wettbewerbsfähiger werden.
Rentenpaket II
Eine Reform der gesetzlichen Rente hatten Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Lindner eigentlich schon verabredet. Die SPD setzte ein auf Jahre garantiertes Rentenniveau durch, das allerdings zu einem deutlichen Beitragsanstieg für die Einzahler führen dürfte.
Abgebremst werden soll dieser Anstieg dadurch, dass Geld am Aktienmarkt angelegt wird und Zinsen abwirft - eine Idee der FDP. Doch das Projekt steckt fest in den Beratungen im Bundestag. Die FDP-Fraktion stellt sich quer, weil sie nicht will, dass die arbeitende Bevölkerung mit höheren Beiträgen belastet wird.
SPD-Chef Lars Klingbeil machte in dieser Woche noch einmal klar, dass die SPD auf einen Beschluss besteht. In der Ampel gebe es eine klare Verabredung, die im Rahmen der Haushaltsverhandlungen noch einmal erneuert wurde, sagte er. «Da muss ich keine Ultimaten nennen, da muss ich auch nicht drohen und keinen Konflikt anheizen.»
Private Altersvorsorge
Die unbeliebte Riester-Rente soll abgelöst werden, der Gesetzentwurf aus dem Finanzministerium soll in nächsten Wochen kommen. Es ist eines der letzten Prestigeprojekte, mit denen die FDP noch richtig punkten könnte. Deshalb ist für Parteichef und Minister Lindner umso wichtiger, dass die Koalitionspartner mitziehen und das glatt über die Bühne geht.
Lindner plant, private Depots mit Aktienanlagen staatlich zu fördern. Hierbei könnten die Bürger in Wertpapiere ihrer Wahl investieren und bis zu 600 Euro Förderung im Jahr erhalten. Der FDP-Chef verweist auf Expertenberechnungen, nach denen man so nach 40 Jahren Millionär sein könnte, wenn man 250 Euro im Monat spare und die staatliche Förderung voll ausnutze.
Gesetz für mehr Tarifverträge
Seit Jahren bröckelt die Tarifbindung. 1998 galt in der früheren Bundesrepublik für 76 Prozent der Beschäftigten ein Tarifvertrag. Vergangenes Jahr waren es 51 Prozent. In Ostdeutschland galten 1998 für 63 Prozent der Beschäftigten Branchen- oder Firmentarifverträge - 2023: für 44 Prozent.
Die Idee hinter dem geplanten Gesetz für mehr Tarifbindung aus dem Haus von Arbeitsminister Heil: Wer als Arbeitgeber im Auftrag des Bundes tätig werden will, muss seinen Beschäftigten Tarifbedingungen gewähren. Noch aber dauern die Gespräche innerhalb der Regierung über das Vorhaben an.