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Hitziger "Anne Will"-Zoff um "Zero Covid": "Zynischer Umgang mit Menschenleben"

"Schlag ins Gesicht der Angehörigen", "Kapitulation vor dem Virus": Die Debatte um die "Zero Covid"-Strategie wurde bei "Anne Will" teils hoch emotional geführt. Der Kanzleramtschef erkennt eine richtige Grundidee. Ein Wirtschaftsexperte gab Contra.

Von "Wischiwaschi"-Lockdown und "Eiertanz" in der Bekämpfung der Corona-Pandemie war die Rede, doch das von 13 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern entwickelte Strategiepapier "Zero Covid" verspricht einen Ausweg: Harte Maßnahmen inklusive Quarantäne, Massentests und Mobilitätskontrollen sollen den Inzidenzwert auf null drücken. Anschließend würden in sogenannten "Grünen Zonen", Regionen unter einem Inzidenzwert von 10, die Beschränkungen fallen, bei über 40 wird in sogenannten "Roten Zonen" erneut hart durchgegriffen. Über das Für und Wider der umstrittenen Strategie diskutierte sich die Talkrunde bei "Anne Will" am Sonntag die Köpfe heiß.

Für Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, wäre "Zero Covid" nur mit einer Abschottungsstrategie umsetzbar, was einer freiheitlichen Gesellschaft nicht zumutbar sei. "Wir werden im nächsten Jahr Coronainfektionen haben, wir werden Coronatote haben." Null Neuinfektionen seien illusorisch, man müsse Risiken abwägen und überlegen, wie auch mit Inzidenzen um die 100 ein Alltag ohne ständigen Lockdown möglich sei. Dann wurde es hitzig.

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Denn für die "Zeit Online"-Redakteurin Vanessa Vu wirkte die Aussage wie ein Affront: Mit den jetzigen Zahlen zu leben, sei ein "zynischer Umgang mit Menschenleben". Der Vorwurf gegenüber Hüther ging noch weiter: Sein Ansatz sei "ein Schlag ins Gesicht für alle, die gerade ihre Angehörigen verlieren und eine Kapitulation vor diesem Virus." Im Gegensatz dazu sei "Zero Covid" eine langfristig tragbare Strategie, welche den Corona-müden Bürgern endlich eine Zukunftsperspektive liefere. Freiheitserwerb durch Anstrengung sei wieder möglich. Dies hätten nicht nur die Inselstaaten Australien und Neuseeland, sondern auch asiatische Länder vorgemacht.

Wirtschaftsexperte will "keine Gesellschaft der vollständigen Kontrolle"

Den Vorwurf mutwillig Tote in Kauf zu nehmen, ließ Hüther, Mitglied im "Expertenrat Corona" der Landesregierung NRW, nicht auf sich sitzen: "Dann sage ich Ihnen, sie nehmen die ganzen Todesfälle in Kauf, die aus der wirtschaftlichen Zerrüttung, die sie mit dem Modell auslösen, verursachen", schoss er dagegen. Die vorgeschlagenen Strategien des "Zero Covid"-Papiers hätten mit der realen Wirtschaft nichts zu tun. Und ohnehin: "Also mein Bild ist es nicht von einer Gesellschaft der vollständigen Kontrolle."

Trotz Erwähnungen östlicher Demokratien wie Taiwan oder Südkorea, schoss er sich auf das totalitäre Beispiel China ein. Zumindest darin, dass Länder, die das Virus im Griff hätten, auch wirtschaftlich glimpflicher durch die Krise kämen, waren sich Hüther und Vu einig.

Helge Braun: Grundgedanke von Zero Covid "absolut richtig"

Aus der Politik kam ebenfalls Gegenwind. Die zugeschaltete Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer hält "Zero Covid" auch für nicht realisierbar. "Wir leben in Europa in einer verflochtenen Wirtschaftswelt, aber auch sozial-kulturell verflochten", so die stellvertretende SPD-Vorsitzende. Auch das Argument der Zuversicht, welche die Kampagne ausstrahlen soll, hält sie für falsch. Schließlich ginge es aktuell bald in den vierten Monat eines bestehenden moderaten Lockdowns. Zumindest ein Stufenmodell hält sie für sinnvoll.

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Kanzleramtschef Helge Braun sieht ebenfalls brauchbare Ansätze. Er finde "den Grundgedanken der 'No-Covid'-Strategie absolut richtig". Es sei dringend geboten, die Infektionszahlen drastisch zu senken - wie bereits im ersten Lockdown ab März 2020. "Bei 300 Fällen am Tag hatte ein durchschnittliches Gesundheitsamt eine Infektionskette nachzuvollziehen." Deutschland habe selbst vorgemacht, wie man die Pandemie im Griff halten könne.

Intensivmediziner wettert gegen "16 Ärzte mit der Chefärztin Angela Merkel"

Dass Deutschland bislang gut die Pandemie gekommen sei, ließ Uwe Janssens nicht gelten. Der Intensivmediziner bedauert, dass vonseiten der Krankenhausärzte nicht schon im Oktober lauter Alarm geschlagen wurde. Das Personal in den Kliniken sei an der Belastungsgrenze. Janssens schwebt eine Inzidenz von unter zehn vor und berief sich auf "Länder, wo diese Konzepte gegriffen haben".

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Mit Blick auf die zähen Entscheidungsfindungen des deutschen Föderalismus redete sich der Chefarzt zum Ende der "Anne Will"-Ausgabe in Rage. Er verglich Deutschland mit einem schwer kranken Patienten, dem nach dem Paradigma "hit hard, hit early" geholfen werden müsse. Stattdessen stünden jedoch in den Ministerpräsidentenkonferenzen gleichsam "16 Ärzte mit der Chefärztin Angela Merkel" um den Patienten Deutschland herum, "und jeder dieser Ärzte hat eine andere Meinung". Das Ergebnis: "Der Patient erholt sich, aber nicht richtig, die Keime werden resistent" - Letzteres offenbar eine Anspielung auf die neuen, hochgefährlichen Corona-Mutanten. Janssens bitter: "Deshalb geht die Bevölkerung auch nicht mehr mit."

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